Werkzeuge des visuellen Storytellings: Form, Farbe, Typographie der Grafik

 

Das Wort Grafik leitet sich aus dem griechischen Graphiké ab, was so viel bedeutet wie »die (Be-)Schreibende«. Diese Definition erscheint irritierend, verwenden wir im Alltag den Begriff »Grafik« doch nicht, um (mit Text) zu beschreiben, sondern für verschiedene Formen des formgebenden, bildhaften Ausdrucks. Wie treffend die Bedeutung des griechischen Wortstammes dann doch ist, ergibt sich aus der Betrachtung dreier Grundelemente der Grafik, die elementar für deren Einsatz im visuellen Storytelling sind:

  1. Form: Die Funktion der Reduktion und Gestaltgebung
  2. Farbe: Die Funktion der Aufmerksamkeit und Emotionalisierung
  3. Typographie: Die Funktion der Lesbarkeit und Formgebung

Form: Reduktion und Gestaltgebung

Unser Sehsinn konzentriert sich auf Konturen, und unser visuelles Gedächtnis speichert »Konzepte«, die Grundidee von Objekten.

Das sind genau die richtigen Voraussetzungen für Grafiken, die mit der Form spielen. Denn die Reduktion auf die wesentlichen, die markanten Elemente eines Objekts oder sogar eines Menschen reichen für eine Wiedererkennung aus.

Die Kunst der Reduktion und Symbolisierung ist eine der Stärken grafischer Darstellungen. Klaren, einfachen Formen gelingt es besonders gut, sich im überladenen, bildgewaltigen Internet durchzusetzen und zu Rezipienten durchzudringen und deren Aufmerksamkeit zu wecken sowie Kunden und Fans zu begeistern.

Eine Zentralfunktion von Grafik ist daher nicht nur die Formgebung und Konturierung, um einzelne Objekte herauszulösen und erkennbar zu machen. Gleichzeitig kommt ihr die Funktion zu, dem gesamten Bild »Gestalt« zu geben, also ein Gesamtbild zu definieren.

Gute Grafiker haben daher die Details im Auge, ohne die gesamte Gestalt eines Entwurfs aus den Augen zu verlieren.

Lesetipp Wunderschön anzusehen und mit umfassenden Hintergrundinformationen zum Thema Grafik und Gestaltung ist das Buch „Nea Machina. Die Kreativmaschine“ von Thomas und Martin Poschauko, erschienen im Hermann Schmidt Verlag, Mainz 2013.

Farbe: Aufmerksamkeit und Emotionalisierung

Farben sind die visuellen Ausrufezeichen guter Grafik. Sie lenken das Auge des Betrachters und rufen Gefühle hervor. Dabei prägen persönliche Erfahrungen und kulturelle Konnotation entscheidend die Interpretation von Farbwerten. Der Grafiker Mark D. West unterscheidet drei Assoziationsfelder, die die Bewertung von Farben beeinflussen:
  • Reale Assoziation: Wir assoziieren Farben anhand eines realen Bezuges (Blau steht für Wasser, Rot für Feuer und Gras ist grün).
  • Konzeptuelle Assoziation: Wir lernen Farbcodes in bestimmten Kontexten (Rot steht für Liebe, Gelb für Fröhlichkeit).
  • Kulturelle Assoziationen: Wir lernen Farben und Farbkombinationen anhand kulturell konnotierter Ereignisse oder auch Themenfelder. (Die Farbkombination Rot-Grün erinnert viele Europäer an Weihnachten. Rot-Weiß-Blau steht für Amerikaner für „Freiheit und Unabhängigkeit“ in enger Anlehnung an die amerikanische Flagge. Weiß wird in der westlichen Welt mit Reinheit in Verbindung gebracht, während es in Asien auch Trauer bedeuten kann.)
Visuelles Storytelling setzt Farben bewusst ein und spielt mit diesen Assoziationen und gelernten Farbcodes. Beispiel gefällig? Dann besuchen Sie doch einmal den Künstler Jag Nagra auf seiner Webseite.
Besonders wirkungsvoll sind vor allem drei Farbeffekte:
  1. Kontraste: Starke Farbkontraste und krasse Gegensätze sorgen für Aufmerksamkeit (z. B. Komplementärfarben)
  2. Referenzen: Durch das Zitieren typischer und bekannter Farbcodes werden die damit verbundenen Emotionen gezielt angesprochen.
  3. Disruption: Bekannte Farbmuster werden bewusst durchbrochen, um aufzufallen. Gegenstände, deren Farbe klar von der Norm abweicht, irritieren und wecken Aufmerksamkeit. Der Betrachter hinterfragt seine Assoziationen und sieht genauer hin.
Lesetipp »Farbe hilft verkaufen: Farbenlehre und Farbenpsychologie für Handel und Werbung« von Heinrich Frieling. Hansen Schmidt Verlag 2005

Typographie: Lesbarkeit und Formgebung

Wer mit Grafik visuell erzählen will, sollte sich neben Form und Farbe vor allem aber mit der Gestaltung von Schrift auseinandersetzen. Kaum ein anderes Grundelement der Grafik hatte in den letzten Jahren so großen Einfluss auf die Präsentation von Geschichten wie Typographie.

Hochkulturen wie die Sumerer entwickelten vor über 5.000 Jahren erstmals Zeichensysteme, die das gesprochene Wort visualisierten und festhielten. Die kleinen Piktogramme, aus denen die Urschriften einst bestanden, wurden später stark abstrahiert, vereinfacht und bis heute in unterschiedlichen Kulturen verschieden ausdifferenziert und weiterentwickelt. So unterscheiden sich lateinische und arabische Schrift, chinesische und japanische Schriftzeichen deutlich voneinander.

Schriften können die unterschiedlichsten Formen annehmen. Die Typo-Familien und Klassen wie etwa die Antiqua-Schriften (Buchstaben mit Serifen, kleinen Querstrichen zu Beginn und Ende des Buchstaben) oder Grotesk-Schriften (serifenlose Buchstaben) sind vielfältig und bekommen dank digitaler Software ständig Zuwachs.

Dabei ist es nicht die dringendste Aufgabe der Typographie, abwechslungsreich und kreativ zu sein. Viel wichtiger ist es, die Lesbarkeit eines Textes zu gewährleisten. Reduzierte, klar gezeichnete Schriftarten fokussieren den Blick auf den Text und steigern die Aufmerksamkeit des Lesers.

Dass der sorgfältige Umgang mit Schrift auch das Lesen fördern kann, zeigt das Typo Projekt »The man who agreed Apple EULA« der Französin Florence Meunier. Die Grafikerin will Internetuser darauf aufmerksam machen, dass sie Verträgen, wie zum Beispiel dem Apple ICloud End User Licence Agreements (Apple ICloud EULA), viel zu oft zustimmen, ohne sie gelesen zu haben. Meunier gestaltete die Lizenzvereinbarung daher in einer gut lesbaren Schrift und einem ansprechenden Format und fügte einen zusätzlichen Leseanreiz in Form einer fiktionalen Story hinzu. »The man who agreed Apple EULA« erzählt die Geschichte eines Mannes, der zu schnell einem Vertrag zustimmt. Der Text entsteht durch Schwärzung einzelner Passagen des ursprünglichen EULA-Textes, die Meunier auf überlappenden Transparentseiten markiert. Sie wollen mal reinschauen? Gerne hier.

Wenn Sprache allein versagt

Lesen ist anstrengend. Dieter Herbst macht das in seinem Buch »Bilder, die ins Herz treffen« deutlich:

»Lesen setzt Interesse voraus – je länger der Text, umso mehr. Texte sind linear aufgebaut, deren Verarbeitung erfolgt nach logisch-analytischen Regeln. Bilder sind vieldeutig. Sie haben weder eindeutig unterscheidbare Einzelzeichen noch klar definierte Zeichenregeln. Deren Reize sind gleichzeitig präsent, die Reihenfolge der Betrachtung beliebig.« Und weiter: »Bilder eignen sich wegen ihrer mühelosen Aufnahme und Speicherung besonders, wenig involvierte, passive Empfänger zu erreichen und zur Informationsaufnahme zu bewegen.«

Herbst verweist in diesem Zusammenhang auf die Thesen des Psychologen Allen Paivio: »(Es) gibt für die Speicherung von Bildern und Sprache eigenständige Systeme und Codes: einen bildhaften, visuellen Gedächtniscode und einen sprachlichen, abstrakt-begrifflichen Gedächtniscode. Einfache, konkrete Bilder und Wörter – wie Sonnenuntergang oder Strand – werden doppelt im Gedächtnis abgelegt und entsprechend besser erinnert. Paivio nennt dies duale Codierung. Abstrakte Begriffe – wie Bruttosozialprodukt und Politik – speichern wir ausschließlich im Sprachsystem, da dazu Bildvorstellungen fehlen.«

Visuelles Storytelling wird dann spannend, wenn Bild und Text kreativ aufeinandertreffen und durch die Mischung von grafischen und typographischen Elementen Informationen in beiden Gedächtniscodes verankert werden.

Visual Storytelling setzt daher Grafik und Typographie nicht nur als Gestaltungsmittel ein, um Text ästhetisch besser aussehen zu lassen. Visuelles Storytelling verlangt von Grafik mehr: Ihr kommt die Aufgabe zu, die Botschaft einer Geschichte aktiv zu unterstützen und ein tragender Teil der Story zu werden. Die Storyteller unter den Grafikern achten darauf, dass Grafik und Bild eine symbiotische Verbindung eingehen, dass sie ineinanderfließen und sich gegenseitig ergänzen. In einer gut erzählten visuellen Story wird Grafikdesign zum unverzichtbaren Teil der Leitidee einer Geschichte.


Absoluter Lese-Tipp Wunderbare Inspiration zum Thema Wort-Bild-Kombinationen präsentiert das Onlinemagazin »The Thing Quarterly«;

Sie wollen tiefer in das Thema Typographie einsteigen? Matthew Buttericks „Practial Typography Guide«“ ist ein prall gefülltes E-Book mit Tipps und Tricks rund um den Umgang mit Schriften.

Mehr zum Thema „Visual Storytelling“ finden Sie in dem Buch, aus dem dieser Text stammt: „Visual Storytelling: Visuelles Erzählen in PR und Marketing“ von Petra Sammer und Ulrike Heppel, O´Reilly. 2017 – und auf diesem Blog: Amazing Stories


Photo by Ehimetalor Akhere Unuabona on Unsplash

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