Videos: Emotionale Achterbahnfahrten
Am Samstag, den 23. April 2005, ließ sich Jawed Karim vor dem Elefantengehege des Zoos in San Diego neunzehn Sekunden lang filmen. Der 26-Jährige kommentiert die Länge der Elefantenrüssel hinter sich und schließt seine kleine Ansprache in die Kamera mit den Worten »... and that’s pretty much all there is to say.« Aber es war noch lange nicht alles gesagt. Denn dies war erst der Anfang.
»Me at the zoo« war das erste Video, das auf YouTube hochgeladen wurde, jene Plattform, die Chad Hurley, Steve Chen und Jawed Karim wenige Wochen vorher gegründet hatten, am 15. Februar 2005. Der Name des Unternehmens war Programm, denn »Tube« war ganz klar eine Anspielung an die Röhre des damaligen Fernsehers und »YouTube« war und ist bis heute wortwörtlich zu verstehen als »du sendest«.
Videotipp: Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums von YouTube stellte Luc Beregon die 200 bekanntesten, spektakulärsten und lustigsten YouTube-Filme zusammen. Zu sehen auf YouTube unter http://bit.ly/1vzJXMi - ein romantischer Rückblick. Denn so viel hat sich seither verändert. Die Playlist dazu gibt es hier: http://bit.ly/1AoPl4V.
Die neue Plattform stellte die Filmindustrie auf den Kopf. Vorbei das Monopol großer Filmstudios, die nur mit aufwendigem Kamera-Equipment Unterhaltung machten. Vorbei die Zeit der Musiksender, die durch die exklusive Präsentation von Musikvideos ihr Geschäft machten. Und vorbei auch die Zeit der Industrie- und Unternehmensfilme, mit denen Unternehmen und Marken ihren Kunden die Welt ausschließlich aus ihrer Perspektive präsentierten.
YouTube brach mit allen Formen und Formaten, und seine User entwickelten neue Inhalte wie »Katzen-Content« oder Flashmobs (manche erinnern sich an Harlem Shake oder Icebucket Challenge), neue Genres wie »Tutorials« (Erklärfilme), »Trivia« (Kuriositäten) oder »Let’s-Play«- Videos (Filme, in denen Computerspiele präsentiert und kommentiert werden), und auch eine neue Optik und Ästhetik für das Bewegtbild, zum Beispiel extreme Zeitlupenaufnahmen (Time- und Hyperlapse).
Die einfache Bedienung machte YouTube in nur wenigen Jahren zum ultimativen Erfolgskonzept, zur demokratischen Abspielfläche, die jedem offensteht. Heute ist die Plattform zudem das größte Videoarchiv und Bildgedächtnis, das es jemals gegeben hat. Internetnutzer lieben Videos – obwohl ihre Rezeption ähnlich komplex ist wie die von Texten.
Im Gegensatz zu Fotos, die man auf einen Blick erfassen kann, laufen Filme chronologisch ab. Videos kann man nur linear rezipieren. Doch allzu viel Zeit lässt sich der durchschnittliche Videobetrachter im Internet nicht. 2,7 Sekunden verweilen Zuschauer durchschnittlich bei einem Video. Die meisten User fällen ihre Entscheidung für oder gegen ein Video bereits nach 10 Sekunden (laut Visible Measures, einer Monitoring-Agentur, die auf Erfahrungen aus 14.000 Online-Kampagnen zurückgreifen kann) … und TikTok erhöht sogar noch das Tempo. Narrative Konzepte können die Verweildauer bei Videos erheblich steigern, doch gelten für das visuelle Storytelling auf YouTube andere Regeln als für herkömmliche Geschichten.
Spielregeln für visuelles Storytelling in Videos
Liraz Margalit, Webpsychologin bei ClickTale, beobachtet in ihrer Arbeit zwei ganz verschiedene Verhaltensweisen bei Webbesuchern: »Goal-oriented visitors and unintentional visitors. (...) Visitors who are goal-oriented, who come to your website with a specific need or cause in mind are much more willing to use up cognitive resources (...). They know exactly what they are looking for. (...) Visitors who are in a ›browsing‹ state of mind will pass through a website just to see what’s on offer. Their goal is more to be entertained. This visitor takes in information passively, relying on limited cognitive resources (...). Due to emotion-based processing, this visitor will pay attention to colorful images, embedded video, attractive headlines and catchy slogans. Visitors in a browsing state of mind will tend to prefer video over text.« (»Zielorientierte und unschlüssige Besucher: Zielorientierte Besucher wissen sehr genau, warum sie Ihre Website besuchen. Sie sind daher bereit, sich mit den Informationen kognitiv auseinanderzusetzen. Besucher, die ›einfach so vorbeischauen‹, sind eher auf der Suche nach Inspiration. Ihr Ziel ist es, sich unterhalten zu lassen, daher sind diese Besucher passiver in der Informationsaufnahme und nicht bereit, komplexe Themen zu konsumieren. Deshalb schenken diese Besucher farbenfrohen Bildern, eingebauten Videos, plakativen Headlines und reißerischen Slogans mehr Aufmerksamkeit. Unschlüssige Besucher ziehen Video Text vor.«)Neue Strukturen: Achterbahn statt Berg- und Talfahrt
Um eben diese »unschlüssigen« Webbesucher von einer »Visual Story« zu überzeugen und sie möglichst schnell für ein Video zu interessieren, benötigt die Geschichte eine viel dynamischere Struktur als den bekannten, klassischen Aufbau.Die »klassische« narrative Struktur der 5 Akte nach Gustav Freytag (1816 – 1859)

Anstelle des pyramidalen Verlaufs der fünf Akte, den Aristoteles und später Gustav Freytag definierten, gleicht die Struktur eines YouTube-Videos eher einer Achterbahnfahrt. Statt ausführlich die Ausgangsszene darzulegen und den Zuschauer langsam in die Geschichte einzuführen, haben virale Videos in der Regel einen Kickstart, der nach nur wenigen Sekunden zum ersten Höhepunkt kommt.
Anstelle weniger Highlights, die auf einen langen Spannungsbogen folgen, bieten Videos eine ganze Reihe von Mini-Highlights und einen Wechsel zwischen spannenden und ruhigen Momenten, um das Publikum möglichst lange interessiert zu halten.
Die narrative Struktur eines Videos: emotionale Achterbahnfahrt

Die Erzählstruktur des Videos unterscheidet sich also deutlich vom klassischen Aufbau narrativer Konzepte, wie er in der Literatur, im Film, aber auch in textbasierten Corporate Storys genutzt wird. Stellen Sie sich also um: statt behutsamer Entwicklung der Story besser mit einem »Hotstart« einsteigen; statt eines sorgfältigen Spannungsbogens besser eine emotionale Berg- und Talfahrt anbieten. Um am Schluss ein überraschendes Ende zu bieten und somit die Zuschauer für ihre lange Verweildauer auf dem Video zu belohnen.
Mehr zum Thema „Visual Storytelling“ finden Sie in dem Buch, aus dem dieser Text stammt: „Visual Storytelling: Visuelles Erzählen in PR und Marketing“ von Petra Sammer und Ulrike Heppel, Verlag O´Reilly. – und auf diesem Blog: Amazing Stories