Storyteller im Jahr 2021? Wir werden durch die Hölle gehen

 


Ich habe mich lange gewehrt. Habe ignoriert und geleugnet. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Nicht akzeptieren. 

Dass mein Beruf und meine Passion, der ich so lange mit Freude nachgehe, so etwas Grauenvolles zustande bringen könne. Die Rede ist von Fake News, von Verschwörungstheorien und wie wir grundsätzlich im öffentlichen Raum heute kommunizieren.

Denn genau das ist mein Beruf. Ich bin Kommunikationsberater. Und mit über 25 Jahren Erfahrung hätte ich es eigentlich wissen müssen - worauf das alles hinausläuft. Und sogar noch mehr: wie man sich davor schützen kann, wie man das verhindern kann.

Stattdessen wurde ich eiskalt erwischt. Von Corona, ja auch. Aber vor allem von drei Ereignissen, besser gesagt Phänomenen, die die Kommunikationsbranche und damit meinen Beruf für immer verändern sollten.

Die Büchse der Pandora

Das erste Ereignis liegt fast drei Jahre zurück. Im Frühjahr 2018 beschlagnahmte die britische Datenschutzbehörde (ICO) 42 Computer, 31 Server, 700 Terabyte Daten und über 300.000 Dokumente der Firma Cambridge Analytica, um nachzuweisen, dass diese Firma im Auftrag von Russland und anderer dunkler Mächte die Brexit-Abstimmung maßgeblich beeinflusst hat. Die Aufregung war groß – vor allem wegen des Umgangs mit Facebook-Daten.

Passiert ist seither verhältnismäßig wenig. Als im Oktober letzten Jahres die ICO-Chefin Elisabeth Denham einen umfassenden Abschlussbericht vorlegte, konnte der Verdacht der Wahlmanipulation nicht bestätigt werden. War die Aufregung also überzogen und das Ganze nur ein aufgeblasener Medien-Hype, wie die NZZ kommentierte?

Der Rauch, den ein eifriger Enthüllungsjournalismus vor drei Jahren aufgeblasen hatte, ist verzogen. Der Brandherd scheint gelöscht – Cambridge Analytica meldete im Mai 2018 Insolvenz an. Und doch glimmt das Feuer weiter. Die Büches ist geöffnet und wir haben alle gesehen, was ihr entstiegen ist.

„Wir alle sind anfällig für Manipulationen. Wir treffen Urteile auf der Grundlage der uns zur Verfügung stehenden Informationen, aber wir alle sind der Gefahr ausgesetzt, manipuliert zu werden, wenn der Zugang zu diesen Informationen nicht mehr direkt, sondern vermittelt ist. Im Laufe der Zeit können unsere Vorurteile verstärkt werden, ohne dass wir es merken. Viele vergessen, dass das, was wir in unserem Newsfeed und unseren Suchmaschinen sehen, das Ergebnis einer Modifizierung durch Algorithmen ist, deren einzige Aufgabe darin besteht, auszuwählen, was uns anspricht, nicht darin, uns zu informieren.“

Christopher Wylie, ehemaliger Cambridge Analytica-Mitarbeiter, von dem dieses Zitat stammt, rechnete in Mindf*ck mit seinem ehemaligen Arbeitgeber schonungslos ab. Er deckte dessen Arbeitsweise und vor allem dessen Gesinnung auf – und lässt keinen Zweifel daran, warum uns das Geschäftsmodell von Cambridge Analytica wirklich ängstigen sollte:

„Wir können (…) beobachten, dass Algorithmen, die miteinander um die größtmögliche Aufmerksamkeit der Nutzer konkurrieren, nicht nur Kulturen verändern, sondern auch die Erfahrung der Existenz neu definieren. Durch Algorithmen verstärkte `Interkation´ ist der Kern unserer Empörungs- und Anprangerungskultur, unserer von Selfies verstärkten Selbstgefälligkeit, der Technologiesucht und der Erosion des psychischen Wohlbefindens. Gezielt angesprochene Nutzer werden von Content überschwemmt, damit sie immer weiterclicken. Wir halten uns gern für immun gegen Einflüsse und kognitive Verzerrungen, weil wir das Gefühl haben wollen, Herr unserer selbst zu sein, aber die Alkohol-, Tabak-, Fast-Food- und Spiele-Industrie wissen, dass wir kognitiv und emotional beeinflussbar sind. Auch die Tech-Unternehmen haben das längst kapiert und erforschen das `Nutzer-Erlebnis`, die `Gamifizierung`, das `Growth Hacking` und die `Interaktion`, indem sie `ludische Schleifen´ und Verstärkungsprogramme aktivieren, die denen in Spielautomaten gleichen.“ (Christopher Wylie / Mindf*ck.)

Ja, wir lassen uns verführen. Gerne sogar. In der Netflix-Dokumentation „Der große Hack“ kann man uns dabei sogar zusehen. Eindringlicher zeigt es jedoch die Journalistin Carole Cadwalladr in ihrem wunderbaren TED Talk „Cambridge Analytica, Facebook und die Bedrohung der Demokratie“. Sie warnt vor den Folgen von Cambridge Analytica und deren unzähligen Nachfolge-Firmen, die weltweit weiterhin aktiv sind.

Denn es geht um nichts Geringeres als die Demokratie. Und es geht um meinen Beruf – als Kommunikator und Storyteller.

Horror-Clowns

Wir hätten 2018 auf Carole hören sollen. Haben wir aber nicht. Und so war der Weg bereitet, für ein Ereignis und eine Story, die sich kein Drehbuchautor besser ausdenken konnte: Den Aufstieg und (hoffentlich) Fall von Donald Trump.

Bereits 2016, während seines Wahlkampfes, musste ich mitansehen, wie Kommunikationsberater weltweit Trump als Vorbild nannten. Zu verlockend waren seine kommunikativen Tricks, um sie nicht auch für Unternehmenskommunikation und PR zum Vorbild zu nehmen. Wie schrecklich. Wir hatten ihn alle unterschätzt. Die beiden Horror-Clowns, die ab Herbst 2019 die Kino-Leinwand bevölkerten - Joker und ES-Kapitel 2 - waren nur ein Abklatsch dessen, was der Clown in Weißen Haus anstellen würde.

Mit ihm kam ein Begriff in die Welt, den er stolz wie ein Schutzschild vor sich hertrug, und dessen geistiger Vater er war: Fake News.

Ende 2019 hatte ich mich noch empört, dass Storyteller den Journalismus so schamlos ausnutzten und dass insbesondere Claas Relotius mit Lügengeschichten Preise und Ruhm erntete. Der narrative Journalismus erwies der Kommunikationstechnik „Storytelling“ einen Bärendienst, denn Kritik und Skeptizismus machten sich von jetzt an breit – ganz besonders gegenüber narrativen Erzählstrukturen in Marketing und PR.

Doch in der Nachbetrachtung waren das alles kleine, lächerliche Vorfälle. Der systematische Einsatz von Fake News – von offizieller Seite wie dem Weißen Haus – sollte das alles in den Schatten stellen.

Donald Trump praktizierte und professionalisierte eine Art der Kommunikation, die selbst hartgesottene Kommunikationsberater und Krisenprofis in Staunen – und Schrecken -versetzte. Drei Prinzipen wandte Trump in einer Radikalität an, die dem Erfolg seiner Kommunikation auf schlimmste Weise Recht gab. Erstens, Trump etablierte die „dreiste Behauptung ohne Beweis“. Zweitens, er untergrub systematisch die Glaubwürdigkeit anerkannter Autoritäten, diskreditierte diese, um sie gezielt zu schwächen. Und Drittens, er wiederholte eine falsche Behauptung so lange, bis sie aufgrund der stetigen Wiederholung als wahr empfunden wurde.

Drei brutal einfache Prinzipien - ein Rezept des Horrors. Kommunikationsprofis wissen, dass dieser Art der Kommunikation kaum etwas entgegenzusetzen ist. Und so bereitete Donald Trump den Boden für ein drittes Phänomen, dass die Kommunikationswissenschaften noch lange beschäftigen wird.

Nein, Trumps ist nicht an Corona schuld. Aber an der Art und Weise, wie wir kommunikativ mit der Pandemie umgehen.

Das Ende der Aufklärung

Verschwörungstheorien machen die Runde. Eigentlich ist das nicht neu, denn Krisenzeiten und Pandemien waren immer schon der Nährboden seltsame Geschichten.

Aber dieses Mal ist einiges anders. Als der Schwarze Tod im 14. Jahrhundert wütete, lag die Welt im tiefsten Mittelalter. Als die Spanische Grippe in der Mitte des 20. Jahrhunderts 50 Millionen Menschenleben forderte, steckte die Welt kommunikativ im tiefsten Mittelalter.

Heute - nach Reformation, Aufklärung, Industrialisierung und Modern - sind wir in der digitalen Postmoderne angekommen. Und die Social-Media-Büchse steht weit offen. Mit Plattformen und Belohnungskonzepten, die uns abhängig gemacht habe.

Und nicht nur wir hängen an diesem Tropf, sondern auch ein Mann, der den mächtigsten Staat der Welt lenkte und der sich vielen als Vorbild anbot. Ein Mann ohne Vernunft und Verstand, der der Wissenschaft abgeschworen hatte und der die Lüge als selbstverständliches Kommunikationsmittel etablierte. Willkommen im postfaktischen Zeitalter. Willkommen im Reich der Verschwörungstheoretiker.

Der Feind in meinem Bett

Doch sollte dieser Begriff definiert werden. Denn hier liegt der Ursprung für mein Unbehagen. Lange wollte ich nicht wahrhaben, dass Verschwörungstheorien nichts anderes sind als „ziemlich raffinierte Erzählungen“.

Die Psychologin Pia Lamberty und die Netzaktivistin Katharina Nocun betonen in ihrem Buch „Fake Facts“ mehrfach, dass der Begriff „Verschwörungstheorien“ komplett falsch sei, da es sich bei genauerer Betrachtung nur um „Geschichten“, also um „Verschwörungserzählungen“, handelt.
Auch die Philosophin Prof. Dr. Monika Betzler legt in ihrer hervorragenden Vorlesung „Fake News und Verschwörungstheorien in Zeiten von COVID-19“ Wert darauf, nicht von „Theorien“ zu sprechen. Die meisten dieser „Geschichten“ halten der Definition einer „Theorie“ wissenschaftlich nicht stand. Sie präferiert daher den Begriff „Verschwörungsmythen“.

Es schwirren viele Begriffe. Es lohnt sich, diese zu sortieren (siehe Abbildung), denn wer sich mit Verschwörungserzählungen auseinandersetzt, kommt früher oder später zu der Frage, wo genau das giftige Potenzial einer sog. Verschwörungstheorie anfängt und wo eine Geschichte einfach nur ein einfaches Gerücht oder eine Vermutung ist.

In 6 Schritten zur eigenen Verschwörungserzählung


Sollten Sie jemals in die Verlegenheit kommen, einen Verschwörungsmythos erfinden zu müssen, hier ist die Do-It-Yourself-Anleitung:
  1. Geheimnis: Sie brauchen ein Geheimnis. Das was Sie zu sagen haben sollte unbekannt bzw. nur wenigen bekannt sein. Damit schaffen Sie sogenannte „Insider“ – zu denen Sie selbst gehören, weil Sie Wissensträger sind - und „Outsider“, also „unwissende Schafe.

  2. Sinnstiftung: Das was Sie zu erzählen haben – Ihr Geheimnis – erklärt ein Thema oder einen Vorfall, der viele Menschen aktuell betrifft, berührt, beunruhigt. Idealerweise ist es ein Thema, das komplex zu erklären und schwer zu verstehen ist (z.B. Klimaveränderungen oder eine Pandemie). Und Ihre Verschwörungstheorie sollte eine andere Erklärung bieten, als die von offiziellen Stellen verlautbarte. Laut Betzler sind Verschwörungsmythen Erklärungen, die im Konflikt zu dem stehen, was „offizielle“ Theorien behaupten.

  3. Komplott und Akteure: Dann brauchen Sie selbstverständlich ein Komplott, angetrieben von einem Akteur oder eine Gruppe von Akteuren. Damit haben Sie auch gleich Schuldige identifiziert, die man verantwortlich machen kann. Idealerweise entstammen diese Akteure einer Elite, die bewußt und absichtlich aus Niedertracht und Eigennutz agieren.

  4. Selbstabdichtung: Teil Ihrer Erzählung sollte auch die Behauptung sein, dass die Architekten der Verschwörung, die im Verborgenen agieren, daran beteiligt sind „offizielle“ Theorien zu stützen. Jedes Gegenargument, dass man dann gegen Ihre Verschwörungserzählung vorträgt, dient wiederum als Beweis, dass Ihre Erzählung richtig ist. Praktisch, oder? Sie bestätigen sich selbst. Psychologen nennen dies „Selbstabdichtung“. Mit diesem Trick entziehen Sie sich jeder Kritik.

  5. Emotionalisierung: Das Ganze sollten Sie unterhaltsam präsentieren. Verpackt in eine leicht verständliche, bildhafte Sprache, hoch emotional mit viel Pathos vorgetragen.

  6. Finaler Schliff: Und zum Schluss braucht Ihre Verschwörungserzählung noch einen Schuss „Truthiness“. Ja, richtig gehört. Ein klein wenig Wahrheit, eine leichte Prise Logik, um die noch so irrwitzige These in das zu verwandeln, was Kommunikationswissenschaftler und Psychologen „gefühlte Wahrheit“ nennen. Die Geschichte, muss so erzählt werden, dass sie sich wahr anfühlt. Ganz nach dem Motto der Auto-Ethonographie: „Ich empfinde es so, also ist es wahr“.
Fertig ist die Verschwörungserzählung. Gar nicht so schwer oder? Und jetzt fragen Sie sich, wie eine so einfache Story eine Jahrhunderte alte Institution wie die Demokratie bedrohen kann?

Eskalierende Ungeheuerlichkeiten

Was harmlos aussieht, kann eine ungeheuerliche Kraft entfalten. Bei Cambridge Analytica – und allem was folgte - sind es vier Ungeheuerlichkeiten, die zur Katastrophe (wie dem Brexit oder der Wahl Trumps) führten:

Da ist zunächst einmal der Datenmissbrauch. Userprofile werden auch heute noch ohne Wissen der User erstellt. Ahnungslose Online-Nutzer werden auf dieser Grundlage konstant mit den für sie passenden Argumenten via Social Media versorgt – so lange, bis die digitale Dauerberieselung ihre Wirkung entfaltet und sich wie ein schleichendes Gift auf deren Meinungsbildung auswirkt. Eine unterschwellige Manipulation, die möglich ist, weil Unternehmen und Organisationen schamlos auf Social-Media-Daten zurückgreifen. Hier geht’s um Datenschutz und das Recht an den eigenen Daten. Juristen und Verbraucherschützer sind gefordert – oder längst überfordert.

Die zweite Ungeheuerlichkeit ist der Umgang mit der Wahrheit. Bewußt werden Lügen produziert, Fakten verdreht, skandalisiert. Und das mit einer Professionalität, die Journalisten und Storyteller erschaudern lässt. Schlimmer noch, je mehr Fake News den Markt überschwemmen, umso schwieriger sind „echte, verifizierte“ Nachrichten erkennbar. Der Kampf gegen Fake News ist nicht nur ein Kampf für die Wahrheit, er ist auch ein Kampf um Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Welche Welt ist das, wenn wir niemandem mehr trauen können und in jedem und allem eine Lüge und ein Komplott wittern?

Die dritte Ungeheuerlichkeit: die dreiste Einflussnahme auf politische Entscheidungen. Zugegeben, Politik wurde immer schon mit Hilfe der öffentlichen Meinung betrieben. Die Öffentlichkeit war immer schon der Manipulation ausgesetzt. Schon in der Antike mischten Eliten, Lobbyisten und reiche Mäzene kräftig mit. Aber heute verfügen wir über Maschinen und Mechanismen, die so raffiniert und effektiv sind, dass eine freie, unabhängige Meinungsbildung kaum mehr möglich scheint.

Politiker und Meinungsforscher erleben täglich, wie unberechenbar die öffentliche Meinung geworden ist – und dies ist nicht bloß „Zeitgeist“, sondern die Folge unseres täglichen Informations- und Kommunikationsverhaltens.

Aber Datenmissbrauch, Wahrheitsverdrehung und Meinungsmanipulation sind fast Kleinigkeiten, im Vergleich zur größten Gefahr, der wir ausgesetzt sind: Der langfristigen Einflussnahme auf kulturelle Werte.

Verschwörungserzählungen und Fake News unterwandern Gesellschaften tiefgreifend. Im ersten Schritt zielen sie nur auf Unentschlossene ab, bestärken deren Unsicherheit, machen sie misstrauisch gegenüber Autoritäten und isolieren sie gezielt. Dann aber greifen sie die gesamte Gesellschaft an. Denn sie bieten alternative „Wahrheiten“ als Erklärungs- und Orientierungspunkte und kreieren somit neue, alternative Gemeinschaften, die im unvereinbaren Widerspruch zur Gesellschaft stehen.

Schritt für Schritt findet eine Abkopplung statt. Haben sich die einst Verunsicherten erst einmal in ihrem alternativen Glauben gefestigt, können sie kaum mehr umgestimmt werden. Jedes Argument dagegen wird als Angriff auf die eigene Identität verstanden und abgewehrt. So radikalisieren sich Gruppen. Es kommt zum offenen Meinungs- und Kulturkampf.

Und genau das ist Zweck und Absicht derer, die Verschwörungserzählungen entwickeln und strategisch in die Welt setzen. So wie etwa Steve Bannon: „Zerstöre eine Kultur, führe sie ins Chaos. Erst danach kann man sie nach eigenen Vorstellungen aufbauen“

Ja, Storyteller können zur Gefahr für die Demokratie werden und zum Angreifer gegen Humanismus und kulturelle Werte, die wir durch die Aufklärung mühevoll errungen haben.

Nice - aber so blöd kann man doch gar nicht sein, oder?

Sie mögen einwenden, dass das alles schöne Theorien sind - aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht betrachtet, aus politikwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive dargestellt. Aber wie sieht das denn in echt aus? In der Realität. Es kann doch gar nicht sein, dass Menschen so einen Blödsinn wie in Verschwörungserzählungen dargestellt, tatsächlich glauben.

Leider doch. Laut einer Umfrage der Konrad Adenauer Stiftung glauben bis zu einem Drittel der Deutschen an Verschwörungstheorien. Konkret nachgefragt sind es – Gott sei Dank - wesentlich weniger. Zum Beispiel sind nur 9 Prozent der Befragten der Meinung, dass Corona bewußt in die Welt gesetzt wurde, um die Menschheit zu unterdrücken.

Die Gruppen sind also klein – aber sie sind laut. Und es sind in der Regel nicht die Durchschnittsdeutschen. Fragt man Psychologen und Soziologen, so kann man sehen, dass es eher labile Menschen sind, die anfällig für Verschwörungstheorien sind.

Wer Freunde beobachtet, die in diese skurrile „Szene“ abgleitet, der sollte dies im Blick behalten. Anstatt also auf den Irrsinn rational zu antworten und an den „gesunden Menschenverstand“ zu appellieren, sollen Sie eher ergründen, warum Ihr Freund oder Ihre Freundin so unsicher, so verängstigt oder psychologisch labil ist. Und wie tief er oder sie schon drinsteckt.

Orientieren können Sie sich an drei Phasen der Eskalation (siehe Abbildung). Drei Phasen, die auch darüber entscheiden, ob es sich lohnt, zu intervenieren. In Phase 1 und 2 geht noch was. In Phase 3 ist es vorbei. Aber dazu später.

 

Plötzlich irre - Wie kann das sein?

Wenn Freunde, Bekannte oder Kollegen*innen zu Verschwörungstheoretikern werden, so ist das kein plötzlicher Prozess. Die neue Gesinnung kommt nicht über Nacht. Auch wenn das für uns manchmal den Anschein hat. Wer den Veränderungsprozess nicht mitbekommen hat, sollte sich fragen, wann er zum letzten Mal Kontakt hatte - zu dieser Freundin oder diesem Kollegen. Hatte man sich vorher schon etwas aus den Augen verloren?

Nun, es muss einiges passieren, um sich dem Unsinn zuzuwenden. Meist kommt ein ganzes Paket an Ursachen zusammen:

Kollektive Bedrohung: Bei allen Pandemien der Vergangenheit oder schwerwiegenden Ereignissen in der Geschichte konnte man eine Zunahme an Verschwörungserzählungen wahrnehmen. Allgemeine Angst und Verunsicherung lassen irrationale Erklärungsversuche aufblühen.

Persönliches Trauma: Schicksalsschläge führen zu verstärkter Empfänglichkeit für Verschwörungsmythen. Werden Menschen aus ihrer sicheren Umgebung und ihrem stabilen Alltag herausgerissen, suchen sie nach Antworten. Verschwörungstheorien können hier gefährlich „sinnstiftend“ wirken.

Tiefes, emotionales Bedürfnis: Menschen, die in einem labilen Umfeld leben und die in ihrer Psyche nicht gefestigt sind, sind anfänglich für Irrationales. Menschen, die ihre tiefsten Grundbedürfnisse über lange Sicht nicht befriedigen können (Freiheitsentzug, Machtlosigkeit, Verlust der Selbstbestimmung, Einsamkeit, Unsicherheit) suchen nach einfachen Erklärungen und Schuldigen.

Fehlende Anerkennung: Menschen, die sich zurückgesetzt und nicht anerkannt fühlen, finden in Verschwörungstheorien Erklärungen für ihr fehlendes Selbstverstrauen (siehe auch Misstrauen und Widerstand gegenüber Autoritäten z.B. Wissenschaftler). Der Glaube an eine Verschwörungserzählung macht sie zu „Wissensträgern“ („einzigartig sein, „auserwählt sein“). Plötzlich fühlen sie sich wichtig und wahrgenommen. In den alternativen Gemeinschaften erfahren sie erstmals und ohne viel Anstrengung Anerkennung – oder erlangen sogar Machtpositionen.

„Gerechte Welt Modell“: Es gibt aber auch religiöse und quasi-religiöse Gründe, warum jemand an Verschwörungstheorien glaubt. Viele Anhänger des „Gerechte Welt Modells“ glauben, daran, dass es Schicksal ist, wenn man von einer Pandemie heimgesucht wird bzw. dass man es „verdient“ hätte oder dass „höhere Mächte“ agieren (z.B. Engels-Glaube, Esoterik …). All dies sind Erklärungsmuster, die sich auch in Verschwörungserzählungen wiederfinden.

Und dann gibt es noch einige, die aus Langeweile und Tristes mitmachen. Und diejenigen, die Profit daraus schlagen, die Likes- und Shares holen wollen, die auf der Suche nach mehr Publikum sind, die Bücher, Seminare, Workshop und Coachings verkaufen, Alu-Hüte, T-Shirts und so weiter.

Und dann sind da noch die Manipulateure und Akteure, die gezielt Einfluss auf die Gesellschaft nehmen wollen und die alle oben genannten für ihre Zwecke missbrauchen.

Gute Gründe, warum man an Verschwörungstheorien glauben sollte

Verschwörungserzählungen sind – wie Storytelling im Allgemeinen - ein ziemlich raffiniertes Mittel. Es gibt „gute“ Gründe, warum es so einfach ist, sich ihrer zu bedienen und so befriedigend, an sie zu glauben.

Verschwörungstheorien sind ein Instrument, um Kontrolle zurückzubekommen. Sie bieten schnell „Lösungen“ auf komplexe Probleme („Ich habe den Durchblick“) und helfen, „kognitive Dissonanz“ zu überwinden. Der Fachbegriff bezeichnet das Unbehagen, wenn Anspruch und Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Um den Stress der „Dissonanz“ abzumildern, sind Menschen sogar geneigt, irrationale Gedanken und Handlungen zu akzeptieren.

Verschwörungserzählungen sind aber auch ein gutes Mittel, um Macht zu erlangen („Ich weiß alles – du nicht“). Mit ihnen kann man seine Gegner diskreditieren, Schuldige benennen oder ganz einfach Schuld abschieben.

Verschwörungsmythen helfen auch, um von Alltagssorgen abzulenken und seinen Fokus auf Dinge zu lenken, die man nicht beeinflussen kann - und über die man sich dann herrlich aufregen kann (Opferrolle). Sie sind unterhaltsam und befriedigen unseren Voyeurismus am Negativen und Skandalösen. Und schließlich lassen sich mit ihnen und an ihnen ganz wunderbar Emotionen ausleben („Das wird man doch noch sagen dürfen …“).

Giftspritzen mit großer Wirkung

Die Wirkung, die diese Giftspritzen entfalten, ist enorm. Von einigen Effekten war schon die Rede, wie zum Beispiel der „Selbstabdichtung“. Der Tatsache, dass Verschwörungstheoretiker ihre Story so bauen, dass jedes Gegenargument als Beleg für die Geschichte gewertet wird. Damit wird die Gemeinschaft der Verschwörungstheoretiker zur Echokammer. Gegenbeweise werden ausgeblendet und ignoriert.

Stattdessens suchen Verschwörungstheoretiker immer weiter nach neuen Belegen für die eigene Story. Psychologen nennen das „Confirmation Bias“. Man sieht und hört dann immer das Gleiche und durch die ständige Wiederholung wird es schließlich geglaubt – so unglaublich es auch sein mag.

Je länger diese selbstbestätigende Schleife andauert, umso schlimmer. Denn wer sich über Wochen und Monate in eine Verschwörungserzählung hineinverbissen hat, der hat ziemlich viel „Arbeit“ in ein Weltbild gesteckt, das er nicht mehr so leicht aufgeben will. Auch wenn die besten Freunde einen bitten. Verschwörungstheoretiker haben einfach zu viel investiert (Zeit, Geld, Nerven), zu viel riskiert (Selbstachtung, Respekt, Freundschaften) und zu viel hinter sich gelassen, um einfach – ohne Gesichtsverlust – von ihrem irren Glauben abzulassen.

Das hat schlimme Folgen für Freundeskreise und Gemeinschaft. Noch fataler ist aber die langfristige Wirkung auf Gesellschaft und Kultur. Denn Verschwörungstheoretiker wenden sich systematisch ab von komplexen, differenzierten Erklärungsmodellen. Sie präferieren und vertrauen auf einfach gestrickte Lösungsangebote. Dadurch bauen sein ein einfaches Weltbild auf, das dem heutigen Wissensstand einfach nicht mehr gerecht wird - und mit dem man auf keinen Fall an den Problemen des 21. Jahrhunderts wirksam arbeiten kann. 

Was nun, Frau Sammer?

Jetzt sind Sie gewarnt, oder? Na, das waren Sie vorher schon, sonst hätten Sie nicht bis hier gelesen. Bleibt also die Frage, was man tun kann. Vor allem, was Storyteller – egal ob im Bereich Entertainment, im Journalismus, im Marketing oder in der Unternehmenskommunikation – tun können.

Mein erster und eindringlicher Rat: Schützen Sie sich selbst.

Denn Storyteller sind gefährdet. Sie zählen zur Risikogruppe. Irgendwie sind wir doch fasziniert von diesen abenteuerlichen Phantastereien. Von diesen Kuriositäten, die so irrsinnig sind, dass man sie einfach gerne weitererzählt - ganz nach dem Motto „Hast du gehört…?“. Viralität nennt man das im digitalen Zeitalter und schon ist man Wasser auf den Mühlen der Verschwörungstheoretiker. Daher hier ein paar (altbekannte) Ratschläge zum Selbstschutz (an die ich Sie einfach nur erinnern will):
  • Erzählen Sie nicht weiter. Wiederholen Sie keine Verschwörungserzählungen. Sorgen Sie dafür, dass sich das schleichende Gift nicht weiterverbreitet. Stoppen Sie die Infektionskette. Das kennen Sie doch von Corona. Ist aber auch eine uralte Medientrainer-Weisheit: Niemals negative Sprache wiederholen. Und Sie wollen doch auch keinen „Mere-exposure Effekt“, oder? Das ist der Gewöhnungseffekt von Falschmeldungen. Stete Wiederholung schafft Gewöhnung. Gewöhnung schafft Vertrauen. Und Vertrauen schafft Glauben. Das darf auf keinen Fall passieren. Nicht mit Ihrer Hilfe.

  • Seien Sie kritisch. Bevor Sie etwas liken, sharen, teilen, weitererzählen, machen Sie Ihre Hausaufgaben. Checken Sie, von wem die Information stammt. Checken Sie den Background von Quellen und machen Sie Double-Checks – prüfen Sie, ob mehrere Quellen berichten oder ob es nur eine Einzelmeinung ist. 

  • Wechseln Sie die Perspektive. Setzen Sie noch eines drauf und überlegen Sie, wer von einer Behauptung oder einer Erzählung profitieren könnte. Erst dann bilden Sie sich Ihre Meinung. 

  • Bewahren Sie Ruhe. Nehmen Sie die Schärfe aus Formulierungen. Das tut Ihrem Blutdruck gut und fördert den konstruktiven Diskurs.

  • Lassen Sie sich von „den anderen“ nicht beeindrucken. Achten Sie auf Gruppendruck. 1951 wies der Psychologe Solomon Ash mit einem einfachen Experiment nach, wie leicht sich Menschen von der Mehrheitsmeinung einer Gruppe beeinflussen lassen (Ash Effekt). Bleiben Sie wachsam – und individuell.
Binsenweisheiten? Ja, das klingt alles ziemlich bekannt und einfach – ist es aber nicht. Es erfordert viel Selbstdisziplin. Noch schwieriger wird es, wenn Sie nicht nur sich selbst schützen, sondern Freunde, Bekannten und Kollegen*innen vor Verschwörungstheorien bewahren wollen. Oder gar retten.

Achtung, Mann/Frau über Bord! - Rettungsringe für wahre Freunde 

Zunächst einmal Gratulation. Gratulation, dass Sie sich die Mühe machen, einem Freund oder einer Bekannten zu helfen. Da geht jemand gesellschaftlich über Bord und Sie springen bei - das ist doch so, oder?

Bevor Sie den Rettungsring werfen, fragen Sie sich ehrlich: Was genau wollen Sie? Wollen Sie einer Freundin aufrichtig helfen? Geht es darum, eine langjährige Freundschaft, die zu brechen droht, zu retten? Oder geht es darum, dass Sie genervt sind? Dass Sie diesem Irrsinn ein Ende setzen wollen? Sie wollen einfach Ihre Ruhe. Geht es darum, Recht zu behalten? Und dass Ihr Freund eingestehen soll, dass diese Verschwörungen nur Blödsinn sind und man sich – sorry – eben geirrt habe. Ach ja, und Dankeschön für die Hilfe.

Ich will Sie nicht davon abhalten, mit Verschwörungstheoretikern in den Diskurs zu treten. Ganz im Gegenteil. Es ist so wichtig, dass wir aktiv werden. Aber wenn Sie tatsächlich helfen wollen, müssen Sie sich aufrichtig bemühen und mit kleinen Schritten zufriedengeben.

Sie werden kein großes „Mea culpa“ hören und keine öffentliche Kehrtwende sehen. Ziel muss stattdessen sein, dass Sie klein anfangen und als ersten Schritt einfach nur erste Zweifel säen. Helfen Sie Ihrem Freund oder Ihre Freundin, sich selbst langsam (raus) zu bewegen.

Vergessen Sie nicht, es hat Ihren Freund viel Zeit und Einsatz gekostet, bis er überhaupt zum Verschwörungstheoretiker wurde. Mindestens die gleiche Zeit braucht er, sich zu besinnen und neu zu orientieren. Also, geben Sie sich und Ihrem Gegenüber Zeit. Und gehen Sie bedacht vor. Hier sind ein paar Rettungsringe, die Sie werfen können:

Wer sitzt Ihnen gegenüber? Bevor Sie anfangen, fragen Sie sich, wie gut Sie Ihr Gegenüber kennen. Ist es wirkliche ein guter Freund, um den es sich zu kämpfen lohnt? Oder ist es nur ein loser Bekannter, von dem Sie wenig wissen. Je weniger Hintergrundinformation Sie zu einer Person haben, umso schwieriger wird es. Wollen Sie gar eine fremde Person bekehren? Dann Vorsicht. Sie kennen die wahren Motive und Absichten dieser Person nicht. Vielleicht ist es ein professioneller Verschwörungstheoretiker, der wirtschaftlichen oder machtpolitischen Profit aus diesen Geschichten zieht. Dann ist der Diskurs kontraproduktiv und Sie sorgen nur unnötig für Aufmerksamkeit. Verschwenden Sie hier nicht Ihre Zeit.

Das etwas andere Gespräch: Erfolgreich ist nur ein empathischer, einfühlsamer Diskurs. Bei allen Verschwörungserzählungen sind Emotionen im Spiel. Auch wenn Ihr Freund oder Ihre Freundin es nicht zugesteht, aber die meisten Verschwörungstheoretiker bedienen sich der Erzählungen, weil sie irgendwie verunsichert, irritiert, verängstigt sind. Nehmen Sie diese Gefühle ernst.

Diskutieren Sie auf Augenhöhe. Diskreditieren Sie Ihr Gegenüber nicht, sprechen Sie klar, ernsthaft und verbindlich. Vermeiden Sie Zynismus und Sarkasmus. Geben Sie Ihrem Gegenüber keinen Anlass, sich zurückgesetzt oder missachtet zu fühlen.

Beobachten Sie genau. Achten Sie auf Körpersprache und Stimmlage, um die Befindlichkeiten Ihres Diskurspartners zu lesen. Zum Beispiel treten Verschwörungstheoretiker oft betont selbstsicher auf, weil sie wissen, dass sie angreifbar sind und ihre Argumentationskette dünn. Oder aber sie präsentieren sich als Opfer - ein klischeehaftes Rollenmodell, passend zu ihrem einfachen Weltbild. Spielen Sie das Spiel nicht mit, sondern respektieren Sie Ihr Gegenüber als gleichwertigen Gesprächspartner.

Es kann nicht um Weltanschauungen gehen: Vermeiden Sie „Debunking“ (grundsätzliches Hinterfragen). Die Grundannahmen über die Welt - von Ihnen und Ihrem Gegenüber - sind komplett verschieden. Bei einer allgemeinen Diskussion finden Sie niemals einen gemeinsamen Nenner. Vermeiden Sie auch Glaubensfragen („Nicht fragen, ob man an den Klimawandel glaubt, sondern ob man ihn versteht.“). Sprechen Sie Themen so konkret wie möglich an.

Weniger ist mehr: Konzentrieren Sie sich auf wenige Argumente, anstatt Grundsätzliches zu diskutieren. Lassen Sie sich aber auch nicht in Spitzfindigkeiten und Details verstricken. Viele Verschwörungstheoretiker sind geübte im Disput und in der argumentativen Verteidigung. Dabei nutzen Sie auch unlautere Mittel – und verändern die Spielregeln. Sie ziehen unzusammenhängende Argumente heran, verknüpfen unterschiedliche Verschwörungserzählungen und greifen auf pseudowissenschaftliche Fakten zurück. Ihnen stehen diese Instrumente nicht zur Verfügung. Entweder sind Sie also super sattelfest bei Fakten und Daten – zu allen Themen! Oder aber Sie vermeiden diese Untiefen.

Bleiben Sie bei einem Thema. Lassen Sie sich nicht von Ihrem Gesprächspartner treiben und ablenken. Machen Sie Ihr Gegeüber darauf aufmerksam, wenn er oder sie abschweift, und kommen Sie immer wieder zum Kernthema zurück.

Respekt – bis zu bestimmten Grenzen: Kritisieren Sie Ihr Gegenüber nie öffentlich. Zwingen Sie Verschwörungstheoretiker nie, sich vor Publikum, vor einer großen Gruppe (oder in Social Media) Ihnen gegenüber zu verteidigen. Isolieren Sie stattdessen Ihren Gesprächspartner und suchen Sie das Zweiergespräch. Nur in einem „geschützten“ Raum und unter „Vier-Augen“ sind vielleicht Zugeständnisse möglich.

Drängen Sie Ihr Gegenüber nicht in die Ecke. Greifen Sie nicht allgemein an, denn ein Rundumschlag und eine Generalkritik werden als Angriff auf das Selbstverständnis, die eigene Identität und die Gruppenzugehörigkeit empfunden. Ihrem Gesprächspartner bleiben dann nur zwei Optionen: Fight or Flight. Kampf (er wird noch verbissener argumentieren) oder Flucht - Ihr Gegenüber blockiert, macht dicht und bricht schließlich das Gespräch ab („Du bist so Mainstream-Denke“, „Das hat keinen Sinn mit dir zu argumentieren“; „Du bist von der Lügenpresse total manipuliert …“).

Eskalieren Sie also nicht, bleiben Sie ruhig und interessiert offen – zeigen Sie aber auch klare Grenzen auf - vor allem bei eindeutig rassistischen oder antisemitischen Bemerkungen. Bennen Sie diese klar und weisen Sie sie zurück.

Regen Sie zum Mitdenken an: Zeigen Sie Interesse und stellen Sie Fragen. Fragen, Fragen, Fragen („Woher kommt die Info?“, „Wer behauptet das?“, „Wie genau ist das gemeint …“). Hinterfragen Sie Pauschalisierungen („Was meinst du mit `Die Wissenschaft´…?“).

Versuchen Sie Logik-Paradoxien aufzudecken („Nehmen wir mal an ..“, „Wie viele Mitwisser braucht es, dass…“, ). Liefern Sie aber nicht zu viele Infos und machen Sie es nicht kompliziert. Je komplexer Sie argumentieren, umso anstrengender wird es für Ihr Gegenüber. Wenn Sie zu faktisch werden, besteht die Gefahr, dass sich er oder sie abwendet (intellektuelle oder argumentative Überforderung, gekränktes Selbstbewußtsein, Faulheit, Müdigkeit etc. – hier ein Literaturtipp dazu: Daniel Kahnemans: Schnelles Denken, langsames Denken)

Versuchen Sie gemeinsam auf Erklärungen zu kommen - vor allem aber von der Suche nach Schuldigen abzulenken. Viele Verschwörungstheoretiker festigen Feindbilder und fixieren sich zwanghaft auf irgendwelche Akteure, Urheber der angeblichen Verschwörung. Wenn es Ihnen gelingt, den Fokus weg von den Akteuren, hin zu sinnhafteren Erklärungen zu lenken, ist viel gewonnen.

It´s the people, stupid: Letztendlich geht nicht um die Erzählung. Sondern um die Menschen, die sie erzählen. Wenn Sie es bei Ihrem Gegenüber nicht mit einen professionellen Verschwörungstheoretiker zu tun haben, der finanziell oder machtpolitisch von dieser Art Erzählung profitiert, dann steckt in der Regel ein ganz anderes Problem dahinter. Ihr Freund*in steckt irgendwie in Schwierigkeiten – und ist emotional berührt. Vielleicht braucht Ihr Freund gar keine Hilfestellung, um Fake News richtig einzuordnen. Vielmehr braucht Ihre Kollegin ganz andere Hilfe - emotionale, soziale, psychologische Unterstützung.

Und es kann sein, dass das Ihre Fähigkeiten übersteigt. Manchmal ist professionelle Hilfe dringend notwendig –Kriseninterventionsteams, psychologische Dienste und oder Seelsorger sind hier wichtige Anlaufstellen. Das ist eine Hilfestellung, die Sie ins Spiel bringen können.

Gute und gut gemeinte Ratschläge – ohne Garantie - die nicht von mir stammen, sondern die ich zusammengestellt habe aus den Aussagen weiser und weitsichtiger Wissenschaftler und Kommunikationsprofis wie Sebastian Herrmann, Journalist und Autor des Buches „Gefühlte Wahrheit“, Katharina Nocun und Pia Lamberty, Autorinnen des Buches „Fake Fakts“, der Anthropologin Heidi Larson, die u.a. Impfgegner erforscht und der Philosophin Prof. Dr. Monika Betzler, dies sich insbesondere mit Verschwörungsmythen rund um Covid-19 beschäftigt.

Das Tor zur Hölle – zu guter Letzt

Sich selbst zu schützen, ist wichtig. Freunde retten auch. Aber zu guter Letzt muss ich natürlich fragen, was professionelle Kommunikatoren und Storyteller – insbesondere in meinem Berufsfeld, in Marketing und PR - tun können und müssen.

Uns steht ein schwieriger Weg bevor. 
Denn wir müssen durch die Hölle gehen, die da heißt: „Sowohl als auch.“

In meiner Kindheit war alles einfach. Da hieß es „Eins, zwei oder drei … du musst dich entscheiden“ und meist standen nur zwei Dinge zur Auswahl. Pelikan oder Geha. Coke oder Pepsi. Heute ist die Auswahl – an Produkten, Meinungen, Haltungen - so viel größer und unübersichtlicher. Heute funktioniert auch nicht mehr, sich für eine Seite klar und für immer zu entscheiden. Es gilt das „Sowohl als auch“. Das „neue Normal“ ist das Paradoxon, ist der gleichberechtigte Widerspruch.

Das Jahr 2020 und Corona bezeichnen viele als Brandbeschleuniger, Matthias Horx will es gar als „Evolutionsbeschleuniger“ werten. Wie weit uns diese Zeit verändert, werden wir sehen, aber klar ist, dass Entwicklungen, die schon vor 2020 sichtbar waren, mit diesem Jahr verschärft wurden. Dazu gehört, dass wir erdulden und kreativ damit umgehen müssen, vollkommen widersprüchliche Dinge gleichberechtigt anzuerkennen und parallel anzugehen. So auch in der Kommunikation.
  • Für Storyteller und Kommunikationsprofis ist es zum Beispiel dringend geboten, in der öffentlichen Debatte Emotionen aus dem Spiel zu nehmen und die Diskussion im öffentlichen Raum zu versachlichen. Gleichzeitig aber müssen wir lernen, emotionaler zu kommunizieren. Denn nackte Daten und Fakten dringen immer weniger zu unserem Publikum durch, noch begeistern oder motivieren sie.

  • Die Unternehmens- und Wissenschaftskommunikation muss dringend mehr Faktenwissen öffentlich machen und diskutieren. Geleichzeitig aber muss viel narrativer erzählt werden, um dieses Wissen besser zugänglich zu machen und einzuordnen.

  • Berichterstattung muss schonungsloser über Fehlverhalten, illegale Machenschaften und skandalöses Verhalten berichten. Parallel braucht es aber auch mehr positive Geschichten, die Mut machen und Hoffnung geben.

  • Wir müssen dringend mehr miteinander reden – und doch Abstand halten.

  • Wir müssen freundlicher und toleranter mit Anderen und Andersdenken umgehen und doch mit aller Härte gegen Hetzer und Spalter vorgehen.

  • Wir sollten Sozialen Netzwerke deutlich in ihre Schranken weisen und gleichzeitig das Recht auf freie Meinungsäußerung verteidigen.

  • Wir müssen der Verbreitung von Verschwörungserzählungen Einhalt bieten und parallel selbst mehr erzählen - positive Narrative schaffen und in Konkurrenz treten zu Fake News & Co. Sebastian Herrmann benennt unsere Aufgabe ganz klar: es geht darum, den Lügnern das Publikum auszuspannen und bessere Geschichte zu erzählen
Paradox oder? Weniger Emotionen und doch mehr Gefühle. Weniger Daten und doch mehr Fakten. Weniger Stories und doch mehr Geschichten.

Wer hätte gedacht, dass das Motto des Jahres von einem niederbayerischen Kabarettisten ausgerufen wird. Hannes Ringelstetter nannte das Jahr 2021 in seiner ersten Sendung des Jahres als das Jahr des „Sowohl als auch.“ Es wird also ein Balanceakt. Es wird ein Höllenritt.

Aber wenn es gut geht, dann haben wir eine Chance. Dann kann das gelingen, was die Politologin Katrin Clüver-Ashbrook in der Sendung Hart aber Fair Anfang Januar als neues, vielfältiges und tolerantes Zukunftsbild - auch für die USA – in den Raum stellte. Dann kann es gelingen, dass sich die Jahre 2020 und 2021 doch gelohnt haben.

Heute wird Joe Biden als neuer Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Heute sind über eine Million Deutsche gegen Covid-19 geimpft mit zwei neuen Impfstoffen. Heute diskutieren alle über Clubhouse, einen neuen Social-Media Hype. Das Jahr fängt doch ganz gut an, oder?

Heute meldet die Weltmeteorologiebehörde WMO, dass die durchschnittliche Temperatur der Erdoberfläche bei 14,9 Grad Celsius liegt – 1,2 Grad höher im Vergleich zu vorindustrieller Zeit um 1850. Es bleibt viel zu tun im neuen Jahr. 
Alles Gute für 2021.

Videotipp: Über Storytelling und die dunkle Seite des Erzählens – ein TEDx Talk von Petra Sammer

 


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