AB IN DIE ECKE MIT DIR, STORYTELLING. SCHÄM DICH! - CLAAS RELOTIUS UND DIE FOLGEN



Zwei Tage nachdem der Spiegel die Öffentlichkeit darüber informierte, dass der eigenen Redaktion „das Schlimmste passiert war, was einer Redaktion passieren kann“, wurde ich auf Twitter gebeten, das Geschehen zu kommentieren. Mit den Hashtags #Journalismus, #PR, #Campaigning, #Storytelling rief man mich explizit in die Bütt, um als Storytelling-Expertin Rede und Antwort zu stehen. Ich habe zwei Bücher über das Thema geschrieben und unzählige Vorträge und Workshops über die Kunst des Geschichtenerzählens gehalten. Wer, wenn nicht ich, sollte jetzt Auskunft geben können. Aber es war zwei Tage vor Weihnachten. Da ist anderes wirklich wichtiger als der Sturm im Wasserglas eines Redaktionshauses.

Doch ich will ehrlich zu Ihnen sein. Nicht nur das Schmücken des familiären Christbaumes hielt mich von einer schnellen Antwort ab, sondern auch die Komplexität des Themas. Und so fiel meine Antwort auf Twitter dann auch aus.

Dafür antwortete der Spiegel einen Tag später mit einem ganzen Heft zum Fall Claas Relotius und kippte gleich einen so großen Eimer „Mea culpa“ über sich selbst, dass es der Journalismusbranche anscheinend gefiel, gleich auch das ganze Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Rede ist von „narrativem Journalismus“, eine Form des Journalismus, die auf die Technik des Storytellings setzt. Es ist ein Format, das schon lange in der Kritik steht. Die Vehemenz und Häme, mit der so mancher Branchenkenner jetzt aber reagierte, lässt vermuten, dass man bisher neidisch auf den schillernden Erfolg dieser Art Journalismus blickte und schon lange auf einen Fauxpas oder so eine Verfehlung gewartet hatte, um endlich massiv Kritik loswerden zu können.

Endlich: Storytelling stinks


Alles, was nur den Hauch von wortreicher Reportage oder blumiger Umschreibung hatte, wurde nun an den Pranger gestellt und als schändliches „Storytelling“ betitelt. Dass der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen eine Debatte über die Ethik des Erzählens im Journalismus forderte, ist absolut gerechtfertigt. Dass es sich im Fall Relotius seiner Meinung nach aber um eine „unendlich dramatische und unendlich schreckliche und schockierende Affäre“ handelt, war doch aber arg überzogen und zeigte, wie überhitzt die Debatte plötzlich wurde.
Der Historiker Rudolf Walter behauptete, dass Journalisten grundsätzlich nach dem Motto „Hauptsache süffige Geschichten“ arbeiten würde und lies die Erzählblase platzen. 
Und Bernd Ziesemer stellte gleich den ganzen deutschen Journalismus unter Generalverdacht, weder Reportagen schreiben, noch der angelsächsischen „Story“ ala New Yorker oder Washington Post gerecht werden zu können.

Schuld ist also das Storytelling


Nicht nur im Journalismus war der Sturm nun losgetreten, das Storytelling-Bashing zog in den ersten Tagen des jungen Jahres nun seine Kreise und erreichte die Wissenschaft. Forschern und Wissenschaftlern wird nun vorgehalten, dass sie mit „Stories“ die Wissenschaft hintergehen. Dass sie verniedlichen und simplifizieren und dadurch Unwahrheiten über den wissenschaftlichen Alltag verbreiten.

Julika Griem, Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, macht sich Sorgen, dass die „Storyfizierung“ der Wissenschaftskommunikation dem komplexen Stoff nicht gerecht wird und dass nur Forschungsbereiche, die richtige Helden vorweisen können – also harte Kerle und kühne Forscherinnen – eine Bühne bereitet wird. Statt „Emotionen, Stories und einer `Kultur des Spektakels´“ fordert sie, dass das Publikum mit der ganzen Komplexität der Wissenschaft konfrontiert werde und deren alltäglicher Realitäten. „`Zärtliche Überforderung´ nennt Griem diese Herangehensweise“. 

Und um das Fass voll zu machen, gerät dann auch noch die Literatur selbst, Urmutter des Storytellings, ins Visier der Kritiker. Der Schriftsteller Robert Menasse, Autor des Bestsellers „Die Hauptstadt“, sieht sich massiven Angriffen ausgesetzt, weil er in seinem Werk und auch mündlich mehrfach falsch zitiert hatte. Kritiker fordern nicht nur eine Entschuldigung, sondern auch die Aberkennung des Deutschen Buchpreises oder gar Korrektur des Fehlzitats in seinem Roman. Die Anfeindungen gehen so weit, dass sich seine Schwester, Eva Menasse, gezwungen sieht, sich in der Süddeutschen Zeitung zu Wort zu melden. Ihr Kommentar wird zu einem aufrichtigen und offenen Plädoyer für die künstlerische Freiheit, der allein schon wegen zwei Sätzen, lesenswert ist: „Er (Robert Menasse) ist ein leidenschaftlicher Träumer und ein brillanter Geschichtenerzähler. Früher waren das keine Schimpfworte.“

Was ist nur los mit dir, Storytelling?


Wie konnte es nur so weit kommen? Noch vor wenigen Wochen war Storytelling doch „Everyone´s Darling“? Marketing und PR-Profis wollten von Schriftstellern wissen, wie sie Erzählwelten schaffen und Leser stundenlang an ein Buch binden. Netflix wurde für sein ausgefuchstes und datengestütztes Storytelling gefeiert, das Bingewatching salonfähig machte. Und die New York Times wurde gelobt für ihren modernen Onlinejournalismus mit Multimediastories, die auch VR und AR smart einsetzen.

Nach all der Euphorie soll jetzt tatsächlich Schluss sein mit „Storytelling“?  Ganz so dramatisch wird es wohl nicht werden. Alle, die eine Radikallösung fordern, seien daran erinnert, dass „Storytelling“ eines der ältesten Werkzeuge ist, deren sich die Menschheit bedient. Seit über 40.000 Jahren erzählen sich Menschen gegenseitig Geschichten und es ist unwahrscheinlich, dass wir jetzt plötzlich darauf verzichten wollen.

Storytelling ist nicht das älteste Werkzeug der Menschheitsgeschichte. Der Hammer, genauer der Faustkeil, ist viel älter, nämlich 1,5 Millionen Jahr. Beides sind Instrumente, die in der Hand von Menschen Gutes und auch Schlechtes bewirken können. Die Generalkritik am Werkzeug Storytelling halte ich daher für überzogen und auch falsch.

An der derzeitigen Diskussion stört mich vor allem die unreflektierte Nutzung des Begriffes „Storytelling“, die dann auch noch mit einer selbstgefälligen Prise Empörung gegenüber Fake News und Medien aufgekocht wird.

Bleiben wir bei der Wahrheit: über Storytelling


Halten wir erst einmal fest, das Storytelling mit Wahrheit nix zu tun hat. Ja, das meine ich tatsächlich so. Denn es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass es am Londoner Bahnhof Kings Cross kein Gleis mit der Nummer neun dreiviertel gibt. Auch das Auenland oder Mittelerde werden Sie vergeblich auf einer Weltkarte suchen.

Storytelling ist eine Kommunikationstechnik. Ein Erzählformat, das Fiktion und auch Realerzählungen umfasst. Mythenerzähler, Prediger, Schriftsteller und Drehbuchautoren bedienen sich des Storytellings. Und weil es ihnen auch heute noch – trotz all der Reizüberflutung – gelingt, die Aufmerksamkeit eines Publikums zu gewinnen, schauen auch andere Kommunikationsdisziplinen wie Journalismus und Marketing neidvoll auf dieses Format.

Und weil es einige Grundregeln gibt, die zum Erfolg von Geschichten beitragen, ist es legitim, diese zu kopieren. „Lügen“ sind allerdings kein Teil des Erfolges.

Die Gebrüder Grimm erwiesen uns einen Bärendienst als ihre Kinder- und Hausmärchen 1812 und 1815 zum weltweiten Bestseller wurden. Mit diesen Sammlungen wurde aus dem mittelhochdeutschen Wort „mære“ – das einst ein neutraler Begriff für „Kunde“, „Nachricht“ oder „Bericht“ war – ein Prosatext, in dem unglaubliche Dinge passieren: Tiere können sprechen (Der Wolf und die sieben Geißlein), Gegenstände verwandeln sich (Tischlein deck dich) und Menschen stehen von den Toten auf (Rotkäppchen).

Umgangssprachlich wurde der Ausdruck „jemanden ein Märchen erzählen“ oder „jemanden eine Geschichte erzählen“ zum Synonym für „Lügengeschichten“, Flunkern und Täuschung.

Sind also unwahre und verzerrende Elemente ein Kriterium des Storytellings?

Annika Schach, Professorin für angewandte Public Relations an der Hochschule Hannover, gibt in ihrem Buch „Storytelling und Narration in den Public Relations“ hierauf eine klare Antwort. Schach vergleicht verschiedene Vertextungsmuster wie Bericht und Storytelling miteinander und kommt zu einer Reihe von Unterschieden: Berichte sind ergebnisorientierte Texte. Storytelling setzt dagegen auf ereignisorientierte Textmuster. Berichte sind sachlich-registrierende und objektive Darstellungen, während Storytelling aus einer subjektiven Erlebnisperspektive erzählt wird. In ihrer Untersuchung macht die Kommunikationswissenschaftlerin klar, dass der Unterschied zwischen Bericht und Storytelling nicht im Wahrheitsgehalt eines Textes lieg. Bericht und auch Geschichte können beide wahr oder fiktiv sein. Der Unterschied liegt in der Erzählperspektive.

„Storytelling“ ist nicht der Grund für Claas Relotius Fehlverhalten


Emotionalität und Subjektivität sind Basiskomponenten guter Geschichten. Relotius ist ein guter Storyteller und Storytelling ist auch nichts Verwerfliches.

Völlig zu Recht sind wir aber empört, dass er die Grundregeln seines Berufs als Journalist missachtet und seine Leser (und Kollegen) hintergangen hat. Er hat gelogen und betrogen. Es spielt keine Rolle, ob er diese Lügen in eine Geschichte oder einen Bericht verpackt, Relotius hat das Vertrauen seiner Leser ausgenutzt und die Grundregeln des Journalismus negiert. 

Wenn sich ein Journalist der Kommunikationstechnik des Storytellings bedient, so muss er sowohl dem Ethos des Storytellers gerecht werden, der sein Publikum in eine Erzählwelt mitnimmt. Er muss vor allem aber dem Ethos seines Berufs, dem des Journalisten, gerecht werden: Die journalistische Berichterstattung dient der Information und hat daher wahrheitsgemäß zu erfolgen.

Robert Menasse dagegen ist Autor und in erster Linie Storyteller. Das heißt seine Pflicht ist es, uns emotional und subjektiv in eine Erzählwelt zu entführen. Im Gegensatz zum Journalisten ist er nicht der Wahrheit verpflichtet. Selbstverständlich gelten auch für Künstler die Regeln der Wahrhaftigkeit. Sie müssen transparent mit der Grenze zwischen Fiktion und Realität umgehen. Robert Menasse hat sich dafür entschuldigt, dass er diese Grenze wohl nicht klar gemacht hat. Aber das ist auch die einzige Pflicht, die er hat. Der Rest ist künstlerische Freiheit. Und wenn wir in Zukunft auf die Kraft fantasievoller, aufregender, wundervoller Geschichten nicht verzichten wollten, so sollten wir diese Freiheit mehr als verteidigen, anstatt unreflektiert auf „Storytelling“ einzuhauen.

Aber was rege ich mich eigentlich auf … am vierten Januar löst die Bunderegierung laut Bild-Zeitung Cyber-Alarm aus und die Welt hat ihren nächsten Aufreger. Da hoffe ich sehr, dass sich auch Wissenschaftler zukünftig nicht davon abhalten lassen, ihre Erkenntnisse in spannende Geschichten zu packen.

„Angesichts der Informationsflut, der wir ausgesetzt sind, fällt es immer schwerer, Wichtiges von Unwichtigem und Richtiges vom Falschem zu unterscheiden.


Ingenieure, Physiker, Biologen, Chemiker, Mediziner – Innovatoren und Visionäre – sie alle erheben ständig wertvoll Daten. Mehr denn je sind sie heute gefordert, die Erkenntnisse dieser Informationen sichtbar zu machen und verständlich zu vermitteln.

Sie alle haben heute die Pflicht, die Relevanz der von ihnen erhobenen Daten und Fakten deutlich zu machen, Zusammenhänge zu erläutern und zu erklären. Und dies nicht nur rational, sondern auch emotional. Geschichten kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Bedeutung zu.

Die Kunst des Storytellings wird mit entscheidend sein, ob wir von den Innovationen, die wir für eine lebenswerte Zukunft brauchen, erfahren. Und ob wir die Chancen, die dadurch entstehen, ergreifen oder ob wir sie ungehört verstreichen lassen.“*

Es wäre sehr fatal, wenn wir das altbewährte Werkzeug „Storytelling“ einfach so verteufeln und verbannen. Wir brauchen gute Geschichten heute mehr denn je. 
*Aus: „What´s Your Story? Leadership Storytelling für CEOs, Projektverantwortliche und alle, die etwas bewegen wollen“ von Petra Sammer. Das Buch erscheint im April 2019 im O´Reilly Verlag.

Most Popular Blogposts

Kontakt zu Petra Sammer

Name

Email *

Message *