Bücher 2021

Was ich dieses Jahr so lese...          


Am Anfang eines neuen Jahres muss man das alte unbedingt noch aufarbeiten:

Vier Bücher, die dafür zu lesen sind - wenn man sich mit den Themen "Fake News" und "Verschwörungserzählungen" auseinandersetzen möchte (und muss):
  • Christoper Wylie, Mindf*ck - Wie die Demokratie durch Social Media untergraben wird. Dokumentarisches und Autobiographisches, 2019: Wylie war bei Cambridge Analytca angestellt. Und durch dieses Buch will er wohl auch etwas sein Gewissen beruhigen. Ein bisschen wird man beim Lesen den Eindruck nicht los, dass sich hier auch jemand wichtig machen will ... aber dafür gibt er Einblicke preis in ein System, das unvorstellbar perfide ist und vor dem wir alle gewarnt sein sollten. Seit der Hochphase von Cambridge Analytica ist viel Zeit vergangen - leider wurde die Warnung wohl nur schwach gehört, denn die Firma mag zwar zerschlagen sein, aber viele ihrer ehemaligen Mitarbeiter machen weiter - in vielen neuen Firmen. eine Hydra, die kaum mehr zu stoppen ist. 

  • Juan Moreno, Tausend Zeilen Lüge - Das System Relotius und der deutsche Journalismus. Dokumentarisches und Autobiograhisches, 2019: Eine herrliche Abrechnung des Journalisten Moreno mit seinem ehemaligen Arbeitskollegen Claas Relotius, der die Form des narrativen Journalismus zur Blüte führte und auch ins unermessliche korumpierte. Man lernt einiges über Relotius und wie er zum Betrüger werden konnte. Vor allem aber lernt man viel über den Journalismus allgemein und wie fragil des System ist. Und auch über den Autor, der nicht davor scheut, sich selbst ins Spiel zu bringen und uns auf seiner Reise durch Zweifel und Hoffnungen an seinem Beruf mitzunehmen. Sehr unterhaltsam geschrieben und angenehmen leicht lesbar.

  • Sebastian Herrmann, Gefühlte Wahrheit - Wie Emotionen unser Weltbild formen. Fachbuch, 2019: Ich m ag Sebastian Herrmann - als Journalist der Süddeutschen Zeitung. Mir liegt seine Schreibe und so auch sein Buch. Noch dazu, wo es so unterhaltsam und leicht in eine wirklich dunkle und irritierdende Welt, wie Verschwörungstheorien einführt. Herrmann geht es dabei nicht um die moralische Abwatsche der Anhänger dieser Theorien, sondern er will verstehen, wie es zu so einer Meinungsbildung kommen kann. Nach seinem Buch ist man sehr viel schlauer - und hat auch ein paar Instrumente an der Hand, wie man diesen Menschen begegnen kann. Vielen Dank dafür.

  • Nocun / Lamberty, Fake Facts - Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen,. Fachbuch, 2020: Die beiden Autorinnen waren prominente Sprecherinnen auf der re:bublica Online 2020. Ich war nicht begeistert von ihrem Vortrag, denn anstatt die Zuschauer das Thema Verschwörungstheorien klar aufzuzeigen, wurde ein Großteil des Vortrages darauf - meiner Meinung nach - verschwendet, um die verschwurbelsten Beispiele dieser Verschwörungserzählungen zu erzählen und auszubreiten. Das hat zwar einen gewissen Unterhaltungswert. Aber leider einen bitteren Nebeneffekt. Denn dadurch werden die Erzählungen weiterverbreitet. Und leider bleibt ja immer etwas hängen. Ihr Buch hat leider den gleichen Effekt. Kapitelweise werden die seltsamsten Theorien aufgelistet, was beim Leser zwar Kopfschütteln hervorruft, aber keine Erkenntnis. Erst das letzte Kapitel gibt dann Tipps und Strategien, wie man mit Verschwörungsgläuben denn umgehen könnte - sehr wertvolle Tipps und ich hätte mir gewünscht, dass dieser Stoff viel ausführlicher dargestellt wird. Insgesamt ist das Buch sehr gut recherchiert und gibt viel Hintergrundinformation - also bitte doch lesen.

Ach, wenn Sie sich für Verschwörungserzählungen und Fake News interessieren, unbedingt die Vorlesung von der Philospohie-Wissenschaftlern Prof. Dr. Monika Betzler ansehen, die eine sehr kluge Einordnung und Definition von Verschwörungstheorien und -mythen macht.

Und weil es so herrlich ist ein Film-Tipp auf Netflix: "Death to 2020" - ein herrlich komödiantischer Rückblick auf dieses Jahr. Und dann ist auch gut mit 2020. Schluss jetzt.
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Doch eine kleine Rückbesinnung soll noch sein - weil gerade Weihnachten war:
  • Albert Stifter, Bergkristall. Erzählung, 1845: Ist es Zufall, dass mir dieses kleine Büchlein zu Weihnachten geschenkt wurde? Sicher nicht. Hieß doch der Originaltitel von Adalbert Stifter einst "Die heilige Nacht" und die beiden Protagonisten verirren sich ja auch an Weihnachten in den Bergen rund um das einsame Dorf. Aber wurde mir diese Erzählung vielleicht auch geschenkt, weil Stifter ein Haußptvertreter des poetischen Realismus und der Biedermaier-Zeit war? Und man die Zeit jetzt - dieses Corona-Jahr, mit all seinen Lockdowns - auch als "Neue Biedermaier Zeit" nennt? Wie auch immer. Wunderbar zu lesen ist schon auf den ersten Seiten die Beschreibung des Weihnachtsfestes um 1845 - und wie beständig die Bräuche und Rituale auch 175 Jahre später sind. ein kleiner Trost, dass sich manche Dinge dann doch nicht ändern. Und das ist auch gut so.

  • Herbert Rosendorfer, Salzburg für Anfänger. Essays, 2005. Reisen ist derzeit ja fast nicht möglich. Aber mit einem Buch wird kann man ja gedanklich verreisen.
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Spätestens im Januar sollte man seinen Businessplan fürs Jahr fertig haben, daher kann ein bisschen Nachhilfe nicht schaden:
  • Mohsin Hamid, So wirst du Stinkreich im boomenden Asien. Roman, 2013. Für 2021 habe ich mir vorgenommen den eigenen Bücherschrank zu durchforsten und Bücher zu lesen, die da im Regal schlummern und von denen man gar vergessen hat, von was sie handeln. Mohsin Hamids Buch über einen jungen Inder, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben kämpft ist so ein Buch. Zu unrecht in Vergessenheit geraten. Denn es ist humorvoll als "zwinker" Selbsthilfebuch geschrieben. Was oberflächlich als extrem lustig und launig daher kommt, ist in Wahrheit aber erschütternd und tief traurig. Lernt man doch, wie junge Menschen in den Großstädten Indiens mühevoll ums Überleben kämpfen müssen und wie sie sich mit illegalen Tricks über Wasser halten, die dieses Land zwar zu einem Wunder machen - aber eben auch zu einem tiefen Sumpf an Unglaublichkeiten. 
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Der Februar beginnt mit Lesestoff zum Schmunzeln:
  • Katharina Münk, Die Insassen. Roman, 2009. Das Buch schlummerte in meinem Bücheregal. Ich hatte es also schon mal gelesen - aber den Inhalt vollkommen vergessen. Ein Phänomen, mit dem ich nicht alleine dastehe. Dorothea Wagner hat im Süddeutschen Magazin dazu aktuell einen wunderbaren Essay geschrieben. Dagegen hilft nur, nochmals lesen. Und das hat sich bei den "Insassen" vollkommen gelohnt. Katharina Münk schreibt ja gerne Sekretärinnen-Romane - anscheindend hat sie da was aufzuarbeiten. So auch hier. Spitzenmanager und Finanzanalysten kommen in eine Psychiatrische Klinik - machen aber eigentlich so weiter, wie am Arbeitsplatz und keinem fällt es auf. Herrlicher Lesespaß.

  • Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker. Komödie, 1961. Dieses Buch musste einfach sein - nachdem ich Katharina Münk´s "Insassen" gelesen hatte. Auch war es längst fällig, hatte komplett vergessen, wie wunderbar diese Komödie doch ist - obwohl man sich fragen muss, warum Dürrenmatt dies eine "Komödie" nennt. Schreibt er doch selbst am Ende in seinen "21 Punkten zu den Physikern": "Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat." ... ach ja und das Buch ist auch sehr passend für diesen Februar, da ich gerade mit - zufälliger Weise - mit sehr vielen Schweizern zusammenarbeite.
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  • Stefan Zweig, Schachnovelle. Novelle, 1943. Eigentlich das perfekte Buch zur Serie. Weihnachten 2020 boomt der Verkauf von Schachbrettern. Und dieses überraschende Interesse an dem Spiel der Könige liegt an Netflix. Dort verlieben sich alle in Anna Taylor-Joy, denn sie spielt die Hauptrolle in "Das Damengambit", einer Serie über eine junge und gleichsam geniale Schachspielerin. Warum also nicht das passende Buch dazu lesen ... aber Stefan Zweigs Novelle erweist sich nur teilweise als passende Lektüre. Denn eigentlich geht es gar nicht ums Schachspiel. Sondern vielmehr um das Duell zweier Männer und Systeme - und um den menschlichen Geist in Abgeschlossenheit und Einsamkeit. Ach ja, und damit ist das Buch auch irgendwie passend zur Zeit. Die Standardlektüre des Deutschunterrichts liest sich auch heute noch - lange nach der letzten Schulstunde - erfrischend - große Erzählkunst. Es ist Stefan Zweigs letztes und berühmtestes Werk.

  • A.A. Miles, Pu der Bär. Kinderbuch, 1926. Ein Kinderbuch, das ich einfach im Bücherreagl zuhause gefunden habe. Wahrschreinlich aus der Bibliothek meiner Schwiegermutter, die Deutschlehrerin war. Ich hatte es noch nie gelesen. Ein Kinderbuch also. Da dachte ich, das geht einfach. War es aber nicht. Die ersten drei Kapitel überfordern mich. Viel zu langsamer Handlungsverlauf, seltsame Sprache, komisch naive - oder böse gesagt - trottelige Protagonisten. Aber ab Kapitel 5 begann ich Pu, Ferkel und Känga zu lieben und vor allem die Fantasie, mit der der Erzähler die Plüschtierchen seines Sohnes in Mini-Abenteuer stürzt. Ganz wunderbar dann die Schluss-Szene, in der Pu die Treppe hochbaumelt. An der Hand von Christoph Robin. Einfach entzückend.
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Im März wirds jetzt aber wieder sachlicher:
  • Janet H. Murray, Hamlet on the Holodock - The Future of Narrative in Cyberspace. Fachbuch, 1997. Bereits 1997 beschäftigte sich die amerikanische Literaturprofessorin Janet Murray mit der Theorie des dreidimensionalen Erzählens. Mit vielen Literatur- und Filmzitaten zeigt sich die Anschlussfähigkeit dieser neuen Erzählform und schuf mit diesem Buch ein Grundlagenwerk für die Arbeit am Virtual Space und Metaverse. 

  • Dirk von Gehlen, Meme. Fachbuch, 2020. Eine Liebeserklärung an die "Ohrwürmer des Internets", an Memes. Der Journalist und Leiter Social Media der Süddeutschen Zeitung beschreibt auf 76 Seiten dieses kleinen Büchleins den aktuellen Stand dieses seltsamen Internetphänomens, dessen Wesen man gar nicht so leicht auf die Schliche kommen kann. 
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Der April hat begonnen - die Corona-Situation verändert sich nur sehr langsam ... immer noch ist Home Office und "Lockdown" ... heißt, dass man nie genau weiss, ob Geschäfte geöffnet sind oder wie man einkaufen kann. Aber wir wursteln uns durch ... eine gute Zeit zu lesen. 
  • Cas Muddle, Rechts Aussen - Extreme und Radikale Rechte ind er heutigen Politik weltweit. Fachbuch 2019. Dieses Jahr steht ja noch eine Bundestagswahl an. Es ist also Zeit, sich mal um das Politische zu kümmern. Cas Muddles hochgelobtes Buch über die Rechtsaußenparteien kommt da gerade recht. Denn von so einem internationalen Experten erhofft man sich Antworten. Leider bleibt er die aber schuldig. Denn als Wissenschaftler beobachtet er "nur" die Szene und räumt in seinem Schlusswort selbst ein, dass er kein Patentrezept dagegen hat. Und doch ist es interessant zu lesen, wie viele Parallelen sich rechtsaussen derzeit überall in der Welt ergeben.

  • Frank Rose, The Art of Immersion - How the digital generation is remaking Hollywood, Madison Avenue, and the way we tell stories. Fachbuch 2011. "... We know this much: people want to be immersed. They want to get involved in a story, to carve out a role for themselves, to make it their own. But how is the author supposed to accomodate them?" ... Frank Rose taucht ab in die Erfahrungsberichte des immersiven Storyellings. Ein wunderbares Buch, das die technologischen Möglichkeiten, die zukünftig durch AR und VR, durch AI und Streaming Dienste usw. entstehen werden, einordnet und deren Bedeutung für das #Storytelling erläutert. Dabei nimmt er seine Leser mit auf eine Reise durch bisherige erste Gehversuche dieser neuen Art des Erzählens - von interaktiven Experimenten bei "Whysoserious", derm AlternateGame rund um die Filmpremiere zu THE DARK KNIGHT, blickt hinter die Kulissen der Erzählwelten von STAR WARS, HARRY POTTER und AVATAR, erzählt vom Methodenstreit um Kontrolle oder Freiheit in Games und zeigt Puzzle und Simulationen bei LOST oder den SIMS. Es ist ein wilder Ritt durch die Film-, Serien- und Game-Geschichte des 20. Jahrhunderts, um das Phänomen "Interaktives Erzählen" geneologisch einzuordnen und zu deuten. https://www.artofimmersion.com/
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Im Mai sind wir seit über 160 Tagen im "Lockdown", also eigentlich im "Lockdown light" oder "Brücken-Lockdown". Was in Deutschland als "Lockdown" bezeichnet wird, ist ja bei weitem nicht so schlimm wie etwa in Spanien. Wir dürfen das Haus verlassen, wann immer wir wollen und auch ohne Kontrolle innerhalb Deutschland reisen und rumfahren. Nach Österreich gibts ein paar Hindernisse wie etwa Registrierung des Grenzübertritts und negativer Coronatest. Ach ja und bei einer Inzidenz über 100 ist nachts Sperrstunde. Aber wo sollte man denn hin, wenn keine Kneipe offen hat. 

Die Pandemie dominiert alles seit eineinhalb Jahren - am 20. März 2020 machte Deutschland für 47 Tage komplett dicht - bis 6. Mai. Dann kam ein Sommer "daheim" ... mit weniger "Lockdown", aber doch vielen Regeln, Abstand, Händewaschen und Masken. Ende November bis 12. Dezember ging ich in Quarantäne und Isolation: Corona-Infektion. Und die folgenden fünf Monate wurde es dann icht wirklich besser, den seit dem 9. Dezember trat dann wieder der "Lockdown light" in Kraft ... bis heute. Was hilft? Lesen:
  • Marcus S. Kleiner, Stramland - Wie Netflix, Amazon Prime und Co. unsere Demokratie bedrohen. Fachbuch 2020. Wenn ein Professor für Meiden- und Kommunikationswissenschaft den Lockdown nutzt, um ein Buch zu schreiben, sollte man vielleicht vorsichtig sein. Es könnte hektisch und in Eile geschrieben sein. Doch der Anfang von Kleiners Abrechnung mit Netflix und Co. beginnt furios. Ich bin begeistert über seine Analyse der Studenten-Generation von heute und deren Konsum-Haltung gegenüber Bildungsinhalten. Die ersten zwei Kapitel verschlinge ich - fühle mich bestätigt in meiner Irritation, wie junge Studierende heute mit Wissen und Wissensvermittlung umgehen. Kleiner beschreibt einen Clash der Generation - und ich bin voll auf seiner Seite. Und auch voll seine Generation. Dann aber - ab Kapitel 3 - macht sich leider Enttäuschung breit. Zu sehr hatte ich darauf gehofft, dass eine wissenschaftliche Analyse der Medienangebote und Serien der neuen Streamingangebote kommt, statt dessen wiederholt Kleiner dann leider immer den gleichen Vorwurf: dass Algorithmen und Voreinstellungen der Streaminganbieter die User zu passiven Konsumenschafen machen - die letztendlich keine eigenen Entscheidungen mehr fällen wollen und können und nur noch der Empfehlungsdiktatur gehorchen. Die Warnung vor einem all zu naiven Medienkonsum mag ja berechtigt sein, aber sie rechtfertigt nicht die immer gleiche Wiederholung auf zweihundert Seiten. Denn auch die Auseinandersetzung mit den Inhalten vieler populärer Serien und deren Wirken auf die Demokratie hätte ein lohnenswertes Buchthema sein können. Vielleicht hat aber die Zeit dafür nicht gereicht - und kommt in seinem nächsten Buch. Also Warten auf die zweite Staffel.

  • Philipp Steffan, Sag was. Radikal höflich gegen Rechtspopulismus argumentieren. Fachbuch 2020. Diese Buch will helfen, in kritischen Gesprächssituationen die Ruhe zu bewahren und sich smart und bedacht gegen rechtspopulistische Agitation zu wehren. Ein Buch, das nicht lange um den heißen Brei rumredet, sondern das auf 80 kleinen Seiten praktische Tipps zum Gespräch und zur Argumentation liefert. Hilfreiche Tipps von KleinerFünf, einer Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die AFD in den kommenden Wahlen unter fünf Prozent zu bringen.

  • Caroline Morfeld / Tobias Gralke / Philipp Steffan, Sprich es an - Rechtspopulistischer Sprache radikal höflich entgegentreten, Fachbuch 2020. Es ist der zweite Band, den die politische Initiative "Kleiner Fünf" veröffentlicht - ein Ratgeber, wie man mit rechtspopulistischen Sprüchen, Argumenten und Hetzreden umgehen kann. Vor allem aber will das kleine Bändchen Mut machen, sich gegen die sprachliche Verrohung zu wehren, die wir seit Jahren im Netz sehen, aber auch im gesprochenen Wort. Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass die Auswirkungen auf unsere Sprache eine viel größere Wirkungen haben, nämlich auch auf unsere Haltung, Gesinnung und letztendlich unsere Haltung. Absolut lesenswert - und perfekt zum weiterreichen.

  • John O´Brien / David Gallagher, Truth Be Told - How authentic marketing and communications wins in the purposeful age. Fachbuch 2020. Was soll man sagen, wenn man von einem Buch - mit so einem anspruchsvollen Titel - etwas enttäuscht ist. Noch dazu, ein Buch, das von einem ehemaligen und sehr hochgeschätzten Kollegen geschrieben wurde. Noch dazu während der schwierigen Corona-Zeit. Und noch dazu, wo man selbst ein paar Worte  beigesteuert hat und sogar netterweise zitiert und namentlich erwähnt wird. Somit tauche ich in einem Buch auf, zusammen mit einer Vielzahl namhafter Experten und Klaus Schwab, dem Gründer des World Economic Forums, der das Vorwort für dieses Buch geschrieben hat. Also alles schwere Bedingungen, um ein Buch zu kritisieren. Man hat sich doch so viel Mühe gemacht. Aber ich will meine Kritik konkret machen. Es sind vor allem zwei Aspekte, an denen ich meine Enttäuschung festmache. Erstens: es ist ein Fachbuch aus dem angelsächsischen Raum - David ist Texaner, der in London lebt, John ist Brite. Daher hatte ich erwartet, dass das Buch - wie in vielen Fachbüchern aus diesem Kulturkreis üblich - mit einer Fülle an inspirierenden Beispielerzählungen angereichert ist, narrativ und unterhaltsam geschrieben ist. Tatsächlich finden sich auch viele Beispiele in dem Buch, allerdings ist die Sprache  eher nüchtern, aufzählend, Nur an wenigen Stellen richtet sich der "Sprecher" direkt an den Leser. Das wirkt dann aber wie ein Stilbruch. Ansonsten hätte das Buch durchaus so auch in Deutsch erscheinen können ... viele Aufzählungen, Listen und Übersichten. Und das bringt mich schon zu meinem zweiten Kritikpunkt: Leider nichts Neues. O´Brien und Gallagher sammeln unter dem Stichpunkt "Truth" und "Purpose" altbekannte Thesen, ohne einen eigenen Anspruch oder eine eigene Idee einzubringen. Dieses Buch soll ein pragmatischer Ratgeber sein, ist aber inhaltlich sehr theoretisch und überstrategisch - und überfliegt in acht Kapiteln Themen, die viel ausführlichere Behandlung verdienen. O´Brien und Gallagher verdichten komplexe Aspekte rund um "Wahrheit" und "Bestimmung (Purpose)" dermassen, dass alle Themen eher banal und verallgemeinernd erscheinen. Dabei war der Titel so vielversprechend. Es ist ein Buch, das sich gefällig in den Markt einpasst, das bekanntes Wissen rund um "Ehrlichkeit" und "Verantwortung" von Unternehmen und Marken in altbekannter Manier einfordert - ohne auf die tatsächlichen Hürden und Schwierigkeiten einzugehen, ohne einen radikalen oder gar überraschenden Lösungsansatz zu bieten. Vielleicht bin ich aber einfach nur zu kritisch ... und für Leser:innen, die neu in diesem Thema sind, bietet es einen guten Überblick über all die Bereiche, die es zu berücksichtigen gilt, wenn man "Ehrlichkeit" und "Wahrhaftigkeit" für Unternehmenskommunikation einfordert.
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Der Juni lässt sich gut an. Sommer ist da. Und es sieht so aus, als ob die Menschheit dem Corona-Virus die Stirn bietet. Impfstoff wurde schon letztes Jahr entwickelt, genehmigt und produziert. Jetzt impft die Welt. Aber es dauert. Doch in der Zwischenzeit hat die Pandemie ihren Schrecken verloren, man hat sich an die neuen Umstände gewöhnt. Freut sich aber vor allem, dass  Schritt für Schritt die Pandemiemassnahmen zurückgenommen werden. Hoffen auf den Normalzustand. Der Juni verspricht: alles wird, wie vorher. Da macht es Sinn, sich auch literarische und buchtechnisch wieder mit den alten Themen zu befassen...

  • Dirk von Gehlen, Meta! Das Ende des Durchschnitts. Fachbuch, 2017. Nach dem Buch "Meme" bin ich zu einem Fan von Dirk von Gehlen geworden. Das kleine, schnell geschrieben Buch über die Internetphänomene gefiel mir. Also gleich mal ein weiteres Buch gekauft. Dieses Mal wieder ein aktuelles Thema: Metadaten. Aber leider bleibe ich etwas enttäuscht zurück. Keine wirklich neuen Erkenntnisse und erstaunlich schnell veraltet. Krass, was sich im Internet in nur drei Jahren so tut. Doch die Grundidee hat selbstverständlich immer noch Bestand und ist wichtig zu bedenken: wie sinnvoll ist es, mit einem Durchschnitt zu arbeiten bzw. Durchschnittliches zu erarbeiten? Allein die Ausgangsüberlegung ist schon spannend. Denn eigentlich gibt es so etwas wie den "Durchschnitt" ja gar nicht. Es ist die Summe und dann der Querschnitt durch Daten, die man hat. Das Ergebnis gibt dann eine Wunschkonstellation, die es wahrscheinlich nie geben wird. Herrlich führt von Gehlen das an der Konstruktion von Flugzeug-Sitzen vor, die aufgrund von Durchschnittsdaten konstruiert werden - und dann für niemanden bequem sind. Aber eigentlich will von Gehlen gar nicht über den Durchschnitt sprechen. Sondern über Individualisierung und Personalisierung. Denn durch das Sammeln von Meta-Daten werden Unternehmen, Marken, Software und Apps so schlau, dass sie alles für uns maßgeschneidert produzieren könnten: Informationen, Schuhe, Unterhaltung. Ob man das will oder nicht. Und was passieren kann, wenn man politische Informationen so nutzt, hat man am Brexit und bei der Wahl von Donald Trump gesehen ... Am Ende seines kleine Büchleins ist von Gehlen sehr positiv... doch die letzten drei Jahren haben uns leider das Gegenteil gelehrt.

  • Michael Crichton, DinoPark. Roman, 1991. Warum immer was neues kaufen, wenn im eigenen Bücherregal wunderbare Bücher liegen, die man gerne nochmals lesen kann. Zum Beispiel die wunderbare Vorlage zu Steven Spielbergs Film JURASSIC PARK - und erst beim zweiten Mal lesen fällt auf, wie gut eigentlich diese Buchverfilmung war. Aber wie so immer ist das Buch eigentlich viel besser - wissenschaftlicher, philosophischer, ernster. Die Rolle des Mathematikers Ian Malcom, der im Film ja überleben darf und dann an den unzähligen Fortsetzungen mitwirken muss, stirbt im Buch - nachdem er die Katastrophe mitansehen musste, die er mathematisch mit Hilfe der Chaostheorie vorhergesehen beziehungsweise berechnet hatte. Crichton griff vor genau 30 Jahrn in diesem Buch die damals heißesten wissenschaftlichen Eisen auf: neue Theoreme der Mathematik, Computertechnologie und vor allem Gentechnologie. Ich kann mich noch sehr gut an die hitzigen Diskussionen um rote und grüne Gentechnologie erinnern - heute hat sich die Debatte abgekühlt, die Wissenschaftler haben sich die Technik geschnappt, einfach weitergemacht und vor wenigen Wochen habe ich ein Ergebnis davon - einen mRNA-Impfstoff gespritzt bekommen. Ich bin froh darüber. Und doch mahte Crichton damals schon vor einer Welt - und Natur, die dank Technologiegläubigkeit ausser Rand und Band gerät. Und genau da stehen wir heute. 
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Und schon ist Juli ... und ich habe jede Menge Bücher parallel in der Mache. Aber nur eines fertig gelesen:
  • Ramon Vullings: Great Leaders Mix And Match - Get ready for the future with the ideaDJ strategy. Fachbuch, 2021. Ramon Vullings gehört zu meine absoluten Lieblings-Kreativen. Sein erstes Buch "Creativity Today" habe ich verschlungen und empfehle es jeden, der sich mit den Techniken der Kreativität vertraut machen wollen. Noch wichtiger aber als Techniken ist für Ramon die "Haltung" die hinter guten Ideen steckt bzw. hinter der Suche nach Ideen: Ramon ist einfach immer und überall ... optimistisch. Er geht immer davon aus, dass es für (fast) jedes Problem eine kreative Lösung gibt - und er hat immer recht. Und genau in diesem Geist sind seine Bücher geschrieben. So auch dieses, das eigentlich eine kleine Zusammenfassung vieler Kreativ-Ansätze und und Arbeitsweisen ist, die Ramon seit Jahren predigt. Daher war für mich nicht wirklich was neues drin ... und trotzdem fühlt man sich durch das kleine, liebevoll gestaltete Buch inspiriert und motiviert. Aber Halt! Ein Gedanke und eine Idee war doch neu für mich: "Placing a ladder over a banana peel to prevent people slipping over it  ...." Ein wunderbares Bild für Lösungen, die einfach an der falschen Stelle ansetzen - herrlich zu merken. Ein Buch für alle, die sich einen kleinen kreativen Kick geben wollen und frisch nach neuen Ideenansätzen suchen.
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Die Mitte des Jahres muss man doch auch mal für Entspannung nutzen. Daher gibt es im August erst einmal seichte Kost:

  • Karsten Dusse: Achtsam Morden. Roman, 2019. Mein Mann war ja schon vor zwei Jahren begeistert, als er den Bestseller von Karsten Dusse in nur wenigen Tagen durchhatte. Ich dachte damals, ich brauch so was seichtes nicht und les lieber ein paar knackige Fachbücher. Aber jetzt ist es auch bei mir soweit - Entspannung muss her und da kommen die Achtsamkeits-Regeln, die man in Dusses witzigen Krimiroman mitserviert bekommt, gerade recht. Band 2 soll zwar nicht ganz so gut sein - ist aber trotzdem schon bestellt.

  • Milena Moser: Möchtegern. Roman, 2010. Ach, ich tue Milena Moser Unrecht. Das Buch über die schweizer Castingshow unter Möchtegern-Schriftstellern steht seit 2010 in meinem Bücherregal und ich kann mich erinnern - jetzt - dass ich es wohl schon vor fünf Jahren früh aus der Hand gelegt habe. Jetzt im Jahr 2021, in dem ich mein Regal nach Büchern durchforste, die mal wieder gelesen werden wollen, ist es mir in die Hände gefallen. Ich hatte den Inhalt komplett vergessen. Beste Voraussetzungen also, für einen Re-Read. Aber langsam dämmert es mir ... so war es schon beim ersten Mal und auch dieses Mal schaffe ich es nicht bis zum Ende. Dabei schreibt Moser wunderbar. Aber irgendwie interessiert mich die Story rund um die Ich-Erzählerin, selbst erfolgreiche Schriftstellerin, die als Jury-Mitglied engagiert wird, nicht. Daran können auch die kleinen Schreibübungen, die nach jedem Kapitel angeboten werden - für alle Leser, die selbst davon träumen, Schriftsteller zu werden, nix ändern. Also ... ich kann nicht sagen, wie´s ausgeht. Und daher hier auch nicht spoilern. Daher selber lesen - für alle, die vom eigenen Roman träumen.

  • Karsten Dusse: Das Kind in mir will achstam morden. Roman, 2020. Einmal Dusse, dann kann man auch zweimal Dusse lesen. Dachte ich mir. Und mit dem zweiten Roman geht Dusse einfach die derzeit aktuellen Psycho-Konzepte durch. Also beim ersten Buch das Thema "Achtsamkeit", beim Folgeroman dann eben "Das Kind in dir". Aber leider geht das Konzept dann irgenwie nicht mehr so witzig auf und der Unterhaltungsspaß lässt doch deutlich nach im Vergleich zum ersten Buch.

  • Karsten Dusse: Am Rande der Welt. Roman 2021. Ach, geb ich dem Dusse doch nochmal eine Chance und lese gleich auch sein drittes Buch. Immerhin ist der Mann echt fleißig und schreibt pro Jahr ein Buch auf den Markt geworfen. Dieses Mal gehts ums "Pilgern". Auch das ein populäres Konzept, das seine Verwendung findet für den Anwalt, der ungewollt immer irgendwie zum Mörder wird. Aber bitteschön jetzt, im dritten Buch, ist die Methode dann wirklich bekannt und der Plot auch nicht sehr spannend. Vielleicht tue ich Herrn Dusse auch Unrecht, denn dieses Buch war mein erstes, dass ich komplett auf dem ipad gelesen habe und irgendwie liest man da nicht so intensiv ... oder ich muss noch üben. Aber zu oft war ich versucht, weiterzuwischen ohne richtig zu lesen und bin schnell durch die Seiten gehuscht, weil die Spannung nicht wirklich hoch war. Aber man sollte vielleicht auch nicht in so kurzer Zeit so viel Trivialliteratur lesen. Ich jedenfalls nicht.

  • Michael Müller: Politisches Storytelling - Wie Politik aus Geschichten gemacht wird. Fachbuch, 2020. Ich schätze Michael Müller sehr. Habe auch an einigen seiner Storytelling-Veranstaltungen teilgenommen und daher war meine Erwartung an dieses kleine Büchlein sehr hoch. Vielleicht ein bisschen zu hoch. Auf 163 kleinen Seiten kann man eben nicht vollständig erklären, wie Politik aus Geschichten gemacht wird - zumindest nicht, wenn man so wenig wie Müller auf den politischen Prozess, auf politische Kommunikation und deren Eigenheiten eingeht. Stattdessen bleict Müller ganz nah am Thema Storytelling und analysiert im ersten Teil des Buches sehr gut, warum Gemeinschaften und ganze Nationen Geschichten als identitässtiftendes Modell einsetzen und wie diese Wirken. Leider geht er - und das ist vor allem meine Kritik - dann nur sehr oberflächlich mit dem politischen Wirken um, denn er greift ausschließlich auf tagesaktuelle Themen auf, die im Trend sind wie Klimawandel oder Migration. Diese tagesaktuellen Diskussionen bilden aber nicht "Politik" als Ganzes ab und sind vielleicht auch nich repräsentativ, um politische Kommunikation in ihrer Gänze zu erfassen. Leider geht Müller nicht auf Spezialthemen der politischen Kommunikation ein wie zum Beispiel Wahlkampfmechanismen, komplexe Sachzusammenhänge wie Rentenpolitik oder Wirtschaftpolitik, auf die Notwendigkeit eigener Stories für politische Biografien oder die identitätsstiftenden Narrative für Parteien. An einigen Stellen bringt Müller aus seiner eigenen Arbeitserfahrung Beispiele aus der Unternehmensberatung, doch ist politische Kommunikation in vielen Bereichen nicht mit der Kommunikation von Unternehmen mit Mitarbeitern und Arbeitgebern vergleichbar. Und so bleiben auch die Tipps, die er am Ende gibt, leider sehr an der Oberfläche. So ist vor allem sein wiederkehrender Tipp des "Storylistening" (abgesehen von dem seltsamen Anglizismus für "Zuhören") für Politiker keineswegs neu, sondern Standardrepertoir guter Politiker, die in ihrem Wahlkreis in der Regel den Austausch mit Wählern suchen und durchaus auch zuhören. Wie daraus allerdings packende, überzeugende und motivierende Geschichten werden, die Wähler mobilisieren ... hierfür hat Müller leider kein Rezept. Und doch: Leseempfehlung, denn die Analyse am Anfang des Buches ist auf jeden Fall das Lesen wert.

  • Andreas Brandhorst, Sleepless. Roman, 2021. Wie sieht die Welt aus, wenn man nicht mehr schlafen muss. In Brandhorst Science-Fiction-Roman verändert eine synthetische Droge die Weltordnung, denn plötzlich kommt die Welt nachts nicht mehr zur Ruhe, sondern Menschen gehen auch nachts zur Arbeit, ins Cafe, zur Uni, machen Sport - die Stadt ist voll. Und mitten drin geht es um die Erfinderin der Droge, um einen korrupten Politiker, der es bis zum Kanzleramt schafft, einen Komissar und einen Auftragskiller. Der Thriller ist spannend verwoben mit Vor- und Rückblenden, die am Ende alle in den gleichen Zeitpunkt münden, aber leider ist der Plot schon ganz schön hektisch und der schlaflosen Zukunftsvision werden nur wenige Blicklichter gegönnt. Aber die 700 Seiten lassen sich locker durchlesen - eine Sommerlektüre ideal für den Strand und die Gartenliege.
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Das Jahr geht in die zweite Jahreshälfte ... im September lese ich eine wilde Mischung aus Trivial- und Fachliteratur - es soll ja nicht langweilig werden:

  • Jeff Kinney, Halt mal die Luft an - Greg´s Tagebuch Folge 15. Comic-Roman & Kinderbuch, 2021. "Unser Sohn liest eigentlich gar nix, ausser Greg´s Tagebuch. Aber das ist so banal, ich verstehe gar nicht, warum der das liest..." In einer Diskussion unter Freunden über die Lesegewohnheiten ihrer Kinder fiel dieser Satz einer Mutter ... und da wurde ich hellhörig. Wer zu Hölle ist Greg und warum sind anscheinend alle Kinder verrückt nach seinem Tagebuch. Hinter der Erfolgreihe steckt der Comiczeichner Jeff Kinney. Und die New York Times zählt Kinney mittlerweile zu den einflussreichsten Autoren unserer Zeit. Ohne Witz. Seine Comic-Serie über den Jungen Greg, der frisch und frei von seinem Alltag erzählt, war eigentlich für Erwachsene gedacht. Und daher habe ich gleich mal im nächsten Buchladen zugeschlagen. Was soll ich sagen... ich bin begeistert und leihe jetzt alle weiteren Bücher von den Kindern meiner Freunde aus. Eine herzerfrischende Naiivität, Offenheit und vor allem aber auch Kreativität spricht aus den einfachen Texten und Bildern. Die Geschichten nehmen ehrlich Bezug zur Realtiät und nehmen unvorhersebare Wendungen mit viel Witz und Humor. Unbedingt lesenswert. 

  • Jeff Kenney, Eiskalt erwischt! - Greg´s Tagebuch 13. Comic Roman & Kinderbuch, 2018. Und weil es so schön war, bekam ich von den Kindern meiner Freunden gleich tütenweise "Greg´s Tagebücher" ausgeliehen. Unter anderem auch diese Winter-Episode, die für die jetzige Jahreszeit komplett falsch war, und trotzdem amüsant zu lesen.

  • Andreas Lechner, Heimatgold. Roman, 2019. Von der Süddeutschen Zeitung hatte ich den Tipp bekommen, dass man sich vor dem Urlaub nicht mit Büchern eindecken solle, stattdessen ohne Buch aufbrechen und sich dann überraschen lassen. Es es ist ja mittlerweile zur Gewohnheit geworden, dass Leser und Leserinnen sich von ihrer Urlaubslektüre direkt am Urlaubsort trennen und das Buch einfach "aussetzen", damit es einen anderen Leser erfreut. Oder aber man lässt das schwere Buch einfach zurück. Warum auch noch nach Hause schleppen, was beim Lesen ohnehin Qual war. So warten in vielen Hotels neben der Bar oder vor dem Eingang zum Wellnessbereich meterweise Regale mit "Second Hand Literatur" - auf neue Leser. Ich vertraute also auf meine Glück und wurde tatsächlich belohnt. In Kärnten am Wörthersee fiel mir ein Hardcover-Roman ins Auge, der noch verschweisst und komplett ungelesen im Regal auf seinen ersten Leser wartetet. Und ich sollte der perfekte erste Leser sein, denn "Heimatgold" von Andreas Lechner beschreibt das Leben seines Großvaters, der in Kolbermoor bei Rosenheim (also ganz bei uns zuhause!) vor dem ersten Weltkrieg aufgewachsen war, dann beim TSV 1860 in München zum erfolgreichsten deutschen Gewichtheber wurde - mehrfacher Weltmeister und Olympiasieger in Amsterdam, der mitten in München den zweiten Weltkrieg überstand. Josef Straßberger war tatsächlich eine schillernde Figur der Münchner Szene in den 20ern bis 50ern des letzten Jahrhunderts und sein Enkel, der Filmeacher Andreas Lechner, beschreibt das Leben seines Großvaters mit Hilfe wunderbarer Einfühlsamkeit in das alte München und einer herrlich einfache Sprache, der man das Münchnerisch anmerkt und die auch sprachlich Heimat vermittelt. Ein wunderbares Buch, dem ich im Buchladen niemals einen Chance gegeben hätte - einfach so gefunden. Ein Glücksfall.

  • Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Fachbuch, 1. Auflage 1953. "Wilhelm Schapp ist der Vater der Geschichtenphilosophie", so beginnt das Vorwort zu fünften Auflage dieses hochtheoretischen Werkes über die Verstrickung von Menschen in ihre Geschichten und die Verstrickung von Geschichten in Menschen. Berits in den 50ern machte Schapp darauf aufmerksam, wie entscheidend Geschichten für die Identität von Menschen sind und wie sich Gruppen und auch Nationen auf Geschichten als gemeinsamen Bedeutungsrahmen berufen: "Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter, Geschichte und In-Geschichte-verstrickt-sein gehören so eng zusammen, dass man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann."

  • Rebecca Solnit, Whose Story is This? Old Convlicst, New Chapters. Fachbuch, 2019. Wie sehr die Sichtweise und Haltung von Menschen - ganz besonders in der hochzerstrittenen amerikanischen Gesellschaft - von der jeweiligen Story abhängt und davon, wer sie erzählt, das stellt die Aktivistin und Feministin REbecca Solnit in diesem kleinen Büchlein anschaulich zusammen. Dabei greift sie sich bewußt aktuelle Geschichten und Nachrichten zu Themen wie Black Life Matters oder Metoo und zerlegt im Detail, wie diese Geschichten bewußt und unbewusst, geschickt oder auch plump für die jeweiligen Zwecke genutzt werden - jeweils abhängig vom Erzähler und der damit verbundenen Einfärbung der Erzählung. Rebecca Solnit legt damit den unmittelbaren Beweis für die These von Wilhelm Schapp vor, dass wir Menschen doch zu tiefst in Geschichten verstrickt sind und uns davon meist auch gar nicht lösen können.

  • Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein. Fachbuch, 1. Auflage 1983. Ein Bestseller. Ein Kultbuch. Seit seinem ersten Erscheinen 1983 in den Bestsellerlisten, millionenfach verkauft. Den Sprachwissenschaftler Watzlawick kannte ich bisher nur von einem einzigen Zitat: "Man kann nicht nicht kommunizieren." Mehr wusste ich nicht. Bis mir eine Psychologin dieses kleine Büchlein empfahl. Eine Anleitung zum Tun, was man eigentlich nicht tun sollte. Und genau in diesem Umkehrschluss liegt der Witz für viele Leser. Und auch die Überzeugungskraft. Denn indem man liest, was man tun soll, um unglücklich zu sein, lernt man gleichzeitig, was es braucht, um glücklich zu sein. Ein gemeiner Trick, der Millionen von Menschen geholfen hat. Nur mir hilft es nicht. Ich tue mich schwer beim Lesen. Der feine Humor, die Ironie der Sprache, der leise Sarkasmus an der einen oder anderen Stelle stört mich massiv. Ich kann mich auf die umgekehrte Argumentation so gar nicht einlassen - und husche leider über den einen oder anderen Tipp hinweg, denn es ist mir zu anstrengend, so Negatives zu lesen. Der Zauber der Gegenargumentation verfängt bei mir leider nicht, sondern ruft sogar Abwehr und Ablehnung hervor. ..Na ja, wenigstens den Tukan auf dem Cover finde ich sympathisch. Vielleicht hat das auch schon etwas zu bedeuten.
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Im Oktober wird die Lektüre purer Zufall - eine Mischeung aus neuen Büchern, Fachliteratur, Empfehlungen und Büchern, die sich in meinen Regalen finden - denen ich eine zweite Chance gebe:

  • Robert Moor, Wo wir gehen - Unsere Wege durch Welt. Fachbuch, 2020. Kann ein Buch über so ein einfaches Thema wie "Wege" interessant oder gar spannend sein?  Oh ja Robert Moor ist ein begeisterter Fernwanderer - wie so viele Amerikaner - und er schafft es, seine Begeisterung über das "Gehen auf Wegen" an seine Leser weiter zu geben. Wer gerne wandert, bisher aber einfach so vor sich hin gegangen ist, der sollte sich hier unbedingt einlesen. Nicht nur erfährt man die Ursprünge aller Wege (die weit älter sind als die ältesten Dinosaurier), sondern auch, warum Ameisen so effiziente Wege-Bauer sind, welche Lebewesen sind am längsten an alte Pfade erinnern können, warum weiße Siedler die Kunst der Landschaftspflege der Einwohner Amerikans einfach nicht erkennen konnten und warum so mancher Highway uralten Pfaden folgt. Am spannendsten für mich ist selbstverständlich zu erfahren, dass Pfade auch eine Form des Storytellings sind - zumindest in der Tradition der Indianer - und dass Erzählungen - ganz genau wie Wege - Verbindungen darstellen. Ein herrliches Buch, das vom Faktischen zum Philosopischen wechselt und dass Wege in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen.

  • J.F. Englert, Der Schnüffler. Ein Hundekrimi. Roman, 2007. In Salzburg, in einer Telefonzelle, die als "Open Bibliothek" umfunktioniert wurde, wartet ein ganz entzückend geschriebner Krimi auf mich. Es ist ja nachhaltig und umweltschonend, nicht dauernd neue Bücher zu kaufen. Man kann durchaus auch ein Buch lesen, das schon jemand anderes gelesen hat. Nur leider finde ich selten etwas Brauchbares und Interessantes, wenn ich in die Regale dieser "Second Hand Buchdepots" gucke. Und nur die wenigsten dieser gut gemeinten, offenen Buchschränke sind auch gut gepflegt, so dass man Lust hat, zuzugreifen. Bei der Telefonzelle vor dem Literaturhaus in Salzburg ist das anders. Da wurde ich fündig. In dem kleinen Roman des NewYorkers J.F. Englert wird ein Labrador zum Detektiv ... süß geschrieben aus der Perspektive eines Labradors. Daher geht es nicht nur um Mörder, Mordwaffen und Motive, sondern auch um Gerüche, Hundeklos und Hundefreundschaften ... Die Tier-Perspektive scheint ja ohnehin eine populäres Genre zu sein: es gibt Schafe als Icherzähler (Glennkill von Leonie Swann) oder Katzen in den Felidae Romanen von Akif Piricci oder auch Elefanten (Der weiße Knochen von barbara Gowdy) oder Bären in dem ganz wunderbaren Buch Ein Bär will nach oben von William Kotzwinkle - einem meiner absoluten Lieblingsbücher. Irgendwie hab ich´s mit Tieren.
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Puh, im November habe ich tatsächlich nur ein Buch geschafft. Aber das hat es in sich: 

  • Walter Moers, Die Stadt der Träumenden Bücher. Roman, 2006. Anstatt immer neue Bücher zu kaufen, hatte ich mir vorgenommen, im Buchregal nachzusehen, welches Werk es wert ist, nochmals gelesen zu werden (der Vorsatz hat nicht funktioniert, ein frischer Stapel neuer Bücher wartet schon ... aber ...). Mir fiel ein dicker Schinken von Walter Moers ins Auge. Man kennt Moers eigentlich als Comic-Zeichner und Autor vom "Kleinen Arschloch". Moers ist aber auch ein wunderbarer Romanschreiber - vielmehr sein Alter Ego "Hildegunst von Mytehnmetz", ein dichtender Dinosaurier aus Zamonien. Und damit ist gleich klar, auf welchen Wahnsinn man sich bei Moers einstellen muss. Man sollte vor dem Buch gewarnt werden, denn die Welten, die Moers entwickelt sind überbordender Schwachsinn, fantasievoller Irrsinn und einfach wunderbare Sinneseindrücke - die irgendwie doch tief von Weisheit durchtränkt sind und Spiegelbild sind für die tiefsten Untiefen und Leiden schriftstellerischer Arbeit. In seinem Vorwort spricht Moers selbst eine Warnung aus ... und die sagt schon einiges über das Buch - wenn nicht sogar alles: "Hier fängt die Geschichte an. Sie erzählt, wie ich in den Besitz des Blutigen Buches kam und das Orm erwarb. Es ist keine Geschichte für Leute mit dünner Haut und schwachen Nerven - welchen ich auch gleich empfehlen möchte, dieses Buch wieder zurück auf den Stapel zu legen und sich in der Kinderbuch-Abteilung zu verkrümeln." Zugegeben ... gegen Ende habe ich ein paar der 500 verrückten Seiten überblättert - aber einfach, weil meine Nerven dann doch nicht stark genug waren.
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Und schon ist wieder Dezember - und wie kann man würdiger das Jahr beenden, als mit:

  • Michael Ende, Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch. Roman, 1989. Belzebub Irrwitzer und seine Hexentante Tyrannja Vamperl brauen ein schreckliches Gebräu zusammen in der Absicht für die Welt das Schlimmste zu wünschen und damit ihre Schuld beim Teufel zu begleichen. Welch ein Glück, dass der Hohe Rat der Tiere den kleinen dicken Kater und den zerstrupften Raben zu den beiden geschickt habt. Die beiden können letztendlich nicht nur das Schlimmste verhindern, sondern es auch noch in das Allerbeste wandeln. Man würde sich diese Kraft des Kinderbuchs auch für die echte Welt wünschen und für 2022.

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