»Listen a little more and shout out less.« - Storytelling von Dave Isay lernen



Am 23. Oktober 2003 stellte der Radiojournalist Dave Isay am Grand Central Terminal in New York eine ungewöhnliche Kiste auf. Sie war so groß, dass zwei Menschen Platz darin fanden, um sich an einen Tisch um ein Mikrofon zu setzen. Isay bat Passanten, die zufällig vorbeikamen, das kleine Studio zu betreten und sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Geschichten, wie die des zwölfjährigen Joshua Littman und seiner Mutter.

Die beiden gehörten zu den Ersten an diesem Oktobertag, die die Kiste betreten. Joshua hat das Asperger Syndrom und erzählt seiner Mutter in Dave Isays provisorischem Studio, welche Gefühle er hatte, als seine Schwester Amy geboren wurde. Oder die Geschichte von Danny Perasa, der mit seiner Frau Annie über 30 Jahren verheiratet ist und ihr jeden Tag einen Liebesbrief schreibt. Oder auch die Geschichte von Oshea Israel und Mary Johnson. Als Jugendlicher war Oshea Mitglied einer Straßengang und tötete Marys einzigen Sohn Laramium in einem Bandenkrieg. Zwölf Jahre später besuchte Mary den Mörder ihres Sohnes im Gefängnis, und erstaunlicherweise freundete sie sich mit dem Jungen an, der im gleichen Alter war wie ihr Sohn. Nach seiner Haftentlassung zog Oshea bei Mary ein, und die beiden kümmern sich umeinander.

Bis heute sammelte Dave Isay mit seiner »KISTE« über 60.00 Stories mit mehr als 100.000 Teilnehmern. Es ist die größte Sammlung menschlicher Stimmen, die jemals aufgezeichnet wurde, und die größte Sammlung oraler Geschichten.

Aus dem kleinen Studio am Grand Central Terminal ist eine sozial engagierte Organisation, StoryCorps, entstanden mit Studios in New York, Atlanta, Chicago und San Francisco. Seit 2005 gibt es auch noch zwei mobile Studios, untergebracht in Airstream-Wohnwagen, die laufend unterwegs sind, um Geschichten einzufangen.

Everyone around you has a story ...

»Everyone around you has a story the world needs to hear« ist bis heute das Motto von Dave Isay, der 2015 für sein Lebenswerk mit dem TED Prize ausgezeichnet wurde, der mit einer Million Dollar dotiert ist. Die Preisverleihung war der Anlass, dass Isay eingeladen wurde, selbst eine Geschichte zu erzählen. Und so stand er im März 2015 in New York vor großem Publikum, vor Laudatoren und ehemaligen Preisträgern, um eine Rede zu halten.

Isay ist sichtlich nervös. Als Radiojournalist liebt er zwar den Platz hinter dem Mikrofon, nicht aber, wenn ihn Tausende von Augenpaaren dabei beobachten. Um sich nicht zu verhaspeln, liest er seine Rede vom Blatt ab, und man möchte meinen, dass dies zu einem langweiligen, wenig inspirierenden Vortrag führte. Doch das Gegenteil war der Fall.

Isay ist überzeugt von dem Thema, über das er spricht. Mit Passion und Engagement nutzt er diesen Auftritt, um die Bedeutung jeder einzelnen Story, die er und seine Organisation im Laufe der Jahre gesammelt haben, zu betonen. Und er weiß um die Kraft der Geschichte auch in seiner eigenen Rede. Obwohl er insgesamt nur 20 Minuten spricht, bringt er sechs Story- Corps-Geschichten unter und demonstriert dem Publikum live den Zauber, der von jeder dieser Stories ausgeht. Geschickt verpackt Dave Isay dabei auch seine eigene, persönliche Story, denn er strukturiert seinen Vortrag mit einer Rahmenhandlung.

Er beginnt mit dem Geständnis, dass er erst mit 22 Jahren bemerkte, dass sein Vater schwul ist. Ein Schock, denn in der kleinen Familie war dies bisher nie aufgefallen. Isay ist irritiert und stellt seinen Vater zur Rede. Im Gespräch mit seinem Vater hört er erstmals vom Stonewall Aufstand 1969. Eine Gruppe junger Afroamerikaner- und Latino-Transvestiten wehrte sich gegen die Pöbeleien der Polizei, was zu einer Straßenschlägerei führte. Der Aufstand war einer der Auslöser für die moderne Gay-Rights-Bewegung in den USA. Ort des Geschehens war eine Schwulenbar in Manhattan mit dem Namen »Stonewall-Inn«.

Isays Interesse war geweckt, und er nahm dies zum Anlass, alle Beteiligten, die damals im Stonewall-Inn dabei waren, zu recherchieren und vors Mikrofon zu holen. Die Radioreportage »Stonewall« war die erste Dokumentation des Aufstands, die landesweit ausgestrahlt wurde. Sie wurde gleichzeitig zum Weckruf für Dave Isay, der damit lernte, wie wichtig das Festhalten individueller Geschichten und Erlebnisberichte ist.

Die Idee für StoryCorps war geboren. Am Ende seines Vortrags in New York anlässlich der TED-Preisverleihung kommt Dave Isay genau zu diesem Moment wieder zurück. Denn sein Vater, ein erfahrener Psychiater und Aktivist der Schwulenbewegung, war am 28. Juni 2012 an Krebs verstorben. Es war der Jahrestag des Stonewall-Aufstands:

»Ich hörte mir das Interview (das ich mit meinem Vater Jahre zuvor geführt hatte) das erste Mal um drei Uhr morgens an - an dem Tag, als mein Vater starb. Ich habe kleine Kinder zu Hause und wusste, die einzige Möglichkeit, wie sie diesen Menschen, der eine so überragende Person in meinem Leben war, kennenlernen können, ist durch diese Aufnahme. Ich dachte, ich könnte nicht noch mehr an StoryCorps glauben, als ich es schon tat, aber in genau jenem Augenblick begriff ich zutiefst die Bedeutung dieser Aufnahme.« – David Isay (Übersetzung von Nathalie Roelli)

In der Nacht, als sein Vater starb ...

David Isay nimmt sein Publikum mit nach Hause in dieser Nacht und lässt es Anteil nehmen an seinen Gedanken und Gefühlen, an seinem Leben. Empathie ist der Schlüssel zu jeder Geschichte, die StoryCorps einsammelt, ganz besonders aber der Schlüssel zu Isays ganz eigener, persönlicher Geschichte. Sie zeigt, was Dave Isay zu einem besonderen Menschen machte und warum er den TED Prize mehr als verdient hat. Am Ende der Rede erhebt sich das Publikum von seinen Plätzen. Standing Ovations für Dave Isay, sein Werk, aber auch für seine Präsentation.

Dabei ist Isay alles andere als ein souveräner Präsentator. Als Radiomoderator ist er ein guter Sprecher, aber live vor Publikum ist ihm das Lampenfieber deutlich anzumerken. Umfragen zufolge haben Menschen vor der öffentlichen Rede mehr Angst als vor dem Sterben. Auf der Liste der schlimmsten Dinge, die man sich vorstellen kann, findet sich die »Präsentation vor Publikum« immer wieder auf den ersten drei Plätzen. Was ist der Grund für diese doch eigentlich lächerliche Einstellung gegenüber einer Tätigkeit, die uns nicht schwerfallen sollte? Warum ist es so schwer, vor ein Publikum zu treten?

Psychologen und Anthropologen zufolge tangiert das Vortreten und damit »Heraustreten aus einer Gruppe« ein instinktives Überlebensprogramm, das über Jahrtausende in uns Menschen verankert ist.

Unter Schimpansen und Bonobos, den uns Menschen am nächsten stehenden Säugetieren, konnten Verhaltensforscher beobachten, dass sich einzelne Tiere sehr selten und ungern von ihrer Gruppe entfernen. Der Gruppenverbund bietet Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Wer die Gruppe verlässt oder gar von ihr verstoßen wird, läuft schnell Gefahr, dies nicht zu überleben.

Die Angst, sich von der Gruppe zu entfernen

Jeder Redner, der aufsteht und vor ein Publikum tritt, entfernt sich ein klein wenig von seiner Gruppe. Er oder sie sitzt nicht mehr mitten unter dem Publikum, sondern tritt heraus und vor es. Und genau dies ist der Grund, warum die Schritte zum Podium instinktiv in uns Unbehagen auslösen. Wir entfernen uns aus der »Geborgenheit der Gruppe«.

Mehr noch als die Entfernung von der Gruppe fürchten wir allerdings, nicht mehr in diese zurückkehren zu dürfen. Auch wenn der Verstand es anders einordnet, sagt uns der Instinkt, dass wir uns der Gefahr der Ausgrenzung aussetzen und dass das Publikum sich vielleicht weigern könnte, uns später wieder in die Gruppe aufzunehmen. Mehr also als das Exponieren durch den Schritt nach vorne fürchten wir, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden.

Beruhigend ist, dass dieses Schema instinktiv und automatisch bei allen Menschen gleich abläuft. Durch intensives Training kann es unterdrückt werden. Jeder noch so erfahrene Redner kennt diese Erfahrung, wenn er nach vorne tritt.

»The audience expects you to be nervous«,

sagt TED-Kurator Chris Anderson und verweist darauf, dass Nervosität auch ein wichtiger Erfolgsfaktor für eine Präsentation ist: »It gives you energy to perform and keeps your mind sharp. Just keep breathing, and you’ll be fine.«

Und so atmet StoryCorps Gründer Dave Isay auch einmal kurz durch, richtet kurz seinen Blick auf das Manuskript vor sich und hält sich dann an die kleine Formel "pssst...":
  • p für Passion für sein Thema,
  • s für Story und die Kraft der Geschichte,
  • s für Struktur, mit der er den Zuhörer durch die Rede führt, und
  • s für Sinnlichkeit, mit der er Empathie beim Publikum weckt.
  • Fehlt nur noch das t für Technik, für all die technischen Begleitumstände,
die um eine Präsentation herum passieren. Mit Technik ist hier zunächst die eigene Technik gemeint, mit der wir Körper und Stimme einsetzen, hinzu kommen aber auch all die technischen Hilfsmittel wie Bilder, Videos, Grafiken und Gegenstände, die wir nutzen, um eine Geschichte zu bereichern. Denn der Aspekt »Show, don’t tell.« wird immer wichtiger. Oft genügt es einfach nicht mehr, eine Geschichte nur zu erzählen, man muss mittlerweile die Bilder gleich mitliefern.

David Isay nutzt in seinem TED-Vortrag das ganze Spektrum an Techniken. Mit seiner lebhaften Intonation und Vortragsweise spricht er die auditiven Typen im Publikum an, also alle, die gerne zuhören und auf Stimmmodulation achten. Aber auch den visuellen Zuhörern bietet er jede Menge Anschauungsmaterial: Fotos, Texttafeln und Videos werden immer wieder eingespielt, um zum Beispiel die Gesichter der Menschen hinter den StoryCorps Geschichten zu zeigen. Am Ende wird es sogar haptisch. Für die Kinetiker unter den Zuhörern zieht Isay sein Smartphone aus der Hosentasche, hält es deutlich hoch und kündigt die StoryCorps-App für Smartphones an, mit deren Hilfe jeder eine Geschichte aufnehmen kann.

Zwanzig Minuten lang liest der Radiojournalist Dave Isay vom Blatt ab. Zwanzig Minuten, von denen keine einzige nur ein bisschen langweilig ist. Isay gelingt es, sein Publikum von Minute zu Minute mehr zu fesseln und für sein Thema – die Kraft der Story – zu begeistern. Dabei spricht er mit leiser, aber bestimmter Stimme und wird somit seinem eigenen Credo gerecht: »Listen a little more and shout out less.«

Dave Isay kann aus 60.000 Geschichten auswählen, daher lohnt es sich, seine Rede anzusehen, zu finden auf www.ted.com und hier https://blog.ted.com/7-storycorps-stories-that-dave-isay-just-cant-get-out-of-his-head/ Mehr über StoryCorps erfahren Sie unter https://storycorps.org/

Sie wollen noch einen Talk zum Thema "Storytelling" ansehen? Dann interessiert Sie vielleicht mein aktueller TEDx-Talk mit dem Titel "Über gutes Storytelling und die dunkle Seite des Erzählens".


Photo: https://blog.ted.com/one-year-81000-stories-storycorps-celebrates-the-anniversary-of-its-app/



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