Visuelles Storytelling: Mit Fotos mehr als die Wirklichkeit abbilden

 


1985 schickte der Werber und Konzeptionskünstler Michael Schirner die Besucher seiner Fotoausstellung in den Hamburger Messehallen in einen Raum ohne Fotos. Er zeigte stattdessen 40 schwarze Tafeln mit kurzen Bildbeschreibungen.

Die Ausstellung »Pictures in our minds« appellierte an das visuelle Gedächtnis des Betrachters. Abgefragt wurden ikonische Bilder – Bilder, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Denn nur wenige Worte genügen, und berühmte Bilder entstehen imaginär im Kopf, wie etwa Einstein, der uns die Zunge entgegenstreckt oder Marilyn Monroe im Luftzug über dem U-Bahn-Schacht in New York.

2010 stellte Schirner dann wieder in Hamburg aus. Auch dieses Mal waren Fotos zu sehen, die jeder kennt. Doch dieses Mal präsentierte der Künstler bekannte Pressefotos, aus denen entscheidende Elemente wegretuschiert worden waren.

Wieder vertraute Schirner auf die Vorstellungskraft des Betrachters - denn was nicht gezeigt wird, ergänzt das visuelle Gedächtnis automatisch. Zum Beispiel die Soldaten, die auf dem Foto »Raising the Flag on Iwo Jima« die amerikanische Flagge setzen. Oder Willy Brand bei seinem Kniefall in Warschau 1970 und oder die Panzer vor dem »Tank Man« auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1998.
»Mich gibt es gar nicht. Diese Kunst ist nicht mein Werk, sondern Ihres. Sie allein sind der Erschaffer der Bilder in Ihrem Kopf.« – 
Mit diesen Worten eröffnete Schirner diese Ausstellung mit Namen »Bye Bye« 2010 in den Hamburger Deichtorhallen und verwies damit auf den hohen Wiedererkennungswert und die Suggestionskraft starker Bilder, die uns ständig umgeben, beeinflussen und auch lenken.

Bilder als Machtmittel und Manipulator

Bilder waren immer schon ein Mittel der Macht. »Du sollst dir kein Bildnis machen ...« – das Bilderverbot vieler monotheistischer Religionen zeigt, dass die manipulative Kraft visueller Darstellungen schon früh bekannt war. Doch so sehr man das Gebot und den Zorn der Götter bzw. ihrer Statthalter fürchtete, ging von Bildern gleichzeitig eine so große Faszination aus, dass die Verbote niemals so richtig wirkten. Papst Julius II. selbst gab Michelangelo Buonarroti 1508 den Auftrag, die Decke der Sixtinischen Kapelle mit einem Motiv der Genesis zu schmücken. Zu sehen ist das Abbild Gottes, der Adam am ausgestreckten Finger erschafft – auch eines der Bilder, die Sie sicherlich im Kopf haben.

Einen dramatischen Wandel der Bildwelten brachte schließlich die Zeit des Humanismus. Hatten sich die Künstler des Mittelalters noch weitgehend der Darstellung religiöser Themen gewidmet, so standen ab dem 15. Jahrhundert neue Motive im Vordergrund: Herrscher ließen sich zunehmend selbst abbilden, aber auch Gelehrte und reiche Bürger ließen Porträts von sich anfertigen. Bis zum Jahr 1500 war das ganzfigürliche Porträt ausschließlich der politischen Elite vorbehalten, doch Freigeister wie Lucas Cranach der Ältere setzten sich über diese Regeln hinweg. Vor 500 Jahren gründete Cranach ein Auftragsstudio, in dem jeder Bilder nach seinem Geschmack bestellen konnten. Einer seiner berühmtesten Kunden war Martin Luther. So ist es auch der Porträtkunst Lucas Cranachs zu verdanken, dass Luther zu so großer Berühmtheit gelangte.

Nichts dem Zufall überlassen

»Ein grauer Himmel, ein farbenfrohes Kleid, ein Präsident, der seine Frau umarmt. Was auf den ersten Blick wie ein scheinbar zufällig geschossenes Bild eines Fotografen erscheint, offenbart auf den zweiten Blick eine Marketing-Botschaft. Nicht nur das Kleid von Michelle Obama in den typischen Farben der amerikanischen Landesflagge lässt auf eine gezielt visuell inszenierte Szenerie schließen. Auch ihre leicht verwehte Frisur sowie der graue Himmel im Hintergrund sind alles andere als zufällig. Das Bild symbolisiert eine stürmische Zeit – in welcher Amerika und der Präsident dennoch eng zusammenstehen, sich regelrecht umarmen.«

So kommentiert Marie Blässing im Webmagazin ein Bild von Fotojournalistin Scout Tufankjian – das die Obamas in inniger Umarmung mit den Worten „Four more years“ zeigt.

Bis heute wissen Künstler, Prominente und vor allem Politiker die Macht der Bilder für sich zu nutzen. John F. Kennedy war einer der ersten US-Präsidenten, der Fotos gezielt und manipulativ zugunsten seines Images einsetzte. Cecil William Stroughton (1920 bis 2008) war Kennedys persönlicher Fotograf während seiner Zeit im Weißen Haus und Pionier der politischen PR durch Bilder. Diese Technik setzte unter anderem Barack Obama fort, der sich von dem Fotographen Pete Souza und der Fotojournalistin Scout Tufankjian als 44. Präsident der Vereinigten Staaten visuell konstant begleiten ließ, mit großem Erfolg.

Auf die Perspektive kommt es an

Doch können wir Bildern überhaupt trauen? Filippo Brunelleschi (1377 bis 1446) war der erste Maler, der Zentralperspektive in seinen Bildern einsetzte und damit »realistisch« auf die Leinwand brachte, was unser Auge wahrnimmt. Diese Technik löste die bis zum Mittelalter übliche Bedeutungsperspektive ab, bei der Personen und Gegenstände gemäß ihrer Bedeutung groß oder klein dargestellt wurden. Bildlicher Darstellung hatte von da an die Aufgabe der Dokumentation und Abbildung der Wirklichkeit – umso mehr, als 450 Jahre nach Brunelleschi die Fotografie erfunden wurde. Ende des 19. Jahrhunderts übernahm das Foto die Aufgabe der realistischen Wiedergabe und entließ die Malerei in neue Ausdrucksformen von Impressionismus und Expressionismus bis hin zur abstrakten Kunst.

»Seeing is believing« – das englische Sprichwort bezieht sich bis heute auf den Augenzeugen und auch den Fotobeweis. Was wir mit eigenen Augen oder im Bild gesehen haben, halten wir für real. So kürt das »Fotofinish« den 100-Meter-Sieger, und nur das Gipfelfoto belegt den Gipfelsieg. Doch sind diese Bilder, ist der Fotobeweis tatsächlich verlässlich?

Die größten Skandale der Bergsteigerszene ranken sich um Gipfelbilder: Die Erstbesteigung des schwierigsten Gipfels der Welt, des Cerro Torre, durch den italienischen Kletterer Cesare Maestri und den Tiroler Toni Egger 1959 wird bis heute in Zweifel gezogen, denn Egger kam durch eine Lawine auf dem Rückweg ums Leben und die Kamera mit dem Gipfelbild ging verloren. Das Foto, das der Slowene Tomo Cesen 1990 nach der Südwand- Durchsteigung des 8.516 Meter hohen Lhotse zeigte, erwies sich als Fälschung. Es handelt sich um ein Bild aus dem Jahr zuvor, das seinen Landsmann Viktor Groselj zeigt. Und auch die Besteigung des K2 durch den Österreicher Christian Stangl fand wohl gar nicht statt, denn das angebliche Gipfelfoto, das er zeigte, wurde tatsächlich 1.000 Meter unterhalb des Gipfels aufgenommen.

Schau genau: Visual Turn

Die Beeinflussung der Wirklichkeit und Meinungslenkung durch Bilder gehören zum alltäglichen Diskurs in Unternehmenskommunikation und Marketing, sind aber auch Forschungsfeld der Bildwissenschaften, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts an einigen deutschen Universitäten gelehrt werden. Die noch junge Disziplin beschäftigt sich mit Bildern und Bildräumen, die gezielt als Kommunikationsmedium eingesetzt werden.

Bildwissenschaftler sind es auch, die die Deutung von Bildern in anderen Fachgebieten wie Philosophie, Religionswissenschaften, Ethnologie, Geschichtswissenschaften und Psychologie einfordern und deren bisherige Erkenntnisse hinterfragen. »Visual Turn« ist der Fachterminus für diese Wendung der Forschungsaufmerksamkeit weg vom Wort hin zum Bild. Die Medienwissenschaftler W. J. T. Mitchell und Gottfried Boehm riefen 1992 und 1994 unabhängig voneinander und mit unterschiedlichen Bezeichnungen (»pictorial turn«/»iconic turn«) hierzu auf. Mit Blick auf eine zunehmend von Bildern beherrschte Alltagskultur fordern beide eine ikonische Ausrichtung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit und mehr visuell reflektierende Analyse in der Academia.

Tipp: Simone Faxa, Daniela Haarmann und Ines Weissberg haben am Institut für Geschichte der Universität Wien eine anschauliche Präsentation mit dem Thema »Iconic Turn – die ›neue‹ Macht der Bilder« zusammengestellt, sehenswert. Hier der Link.

Prominentestes Beispiel des »Visual Turn« ist der neue Umgang mit Bildern in der Geschichtswissenschaft. So wurde auf dem Historikertag 2006 in Konstanz unter dem Motto »GeschichtsBilder« die manipulative Wirkung von Bildern auf das wissenschaftliche Geschichtsverständnis analysiert. Je weniger Augen- und Zeitzeugen über Geschichte aus eigenem Erleben berichten können, desto mehr sind Historiker zum Zweck der Deutung von Geschichte abhängig von überlieferten Geschichten über Geschichte und deren Bilder. Und so ist es ist kein Zufall, dass jetzt die Zeit des Nationalsozialismus ins Visier der Bildwissenschaftler gerät, da nur noch wenige Zeitzeugen leben.

»Wir interpretieren heute noch das Dritte Reich nach dem Bild, das es von sich selbst geschaffen hat«

 sagt Gerhard Paul, Geschichtsprofessor an der Universität Flensburg und einer der prominentesten Vertreter des neuen Forschungszweiges »Visual History«. Die Arbeit von Fotografen wie Heinrich Hoffmann, persönlicher Fotograf von Hitler, oder der NS-Regisseurin Leni Riefenstahl, erfüllt heute noch den gleichen Zweck wie vor 70 Jahren: Sie hält den Mythos der NS-Zeit aufrecht.

Manipulativ wirken Bilder aber nicht nur auf das kollektive, sondern auch auf das ganz persönliche Gedächtnis: »Fotos und Filme können die eigene Erinnerung komplett fälschen. Sie füllen Lücken, überlagern tatsächlich Geschehenes mit Bildern und Szenen, denen der Zeitzeuge in Wahrheit nie beigewohnt hat, die vielleicht sogar nie wirklich passiert sind«. So erläutert Rafaela von Bredow in ihrem Spiegel-Artikel »Bilder machen Geschichte« das Phänomen, dass sich Zeitzeugen von Bildern beeinflussen lassen.
»Der Erinnernde importiert die Bilder in sein eigenes Erleben«, 
kommentiert Kulturwissenschaftler Harald Welzer in eben diesem Artikel. Mit dem Wissen um die suggestive und manipulative Kraft von Fotos fordern Vertreter des »Visual Turn« einen verantwortungsvolleren Umgang mit Bildern und sprechen all diejenigen an, die gezielt Meinung mit Bildern machen und visuelles Storytelling betreiben. Fotografie kann Realität abbilden, sie kann aber auch realistisch inszenieren. Fotografie kann Bekanntes unbekannt erscheinen lassen und Reales irreal. Wer heute Bilder kommunikativ einsetzt, sollte um Geschichte, Hintergründe und manipulativen Möglichkeiten von Bildern wissen.


Mehr zum Thema „Visual Storytelling“ finden Sie in dem Buch, aus dem dieser Text stammt: „Visual Storytelling: Visuelles Erzählen in PR und Marketing“ von Petra Sammer und Ulrike Heppel, Verlag O´Reilly. – und auf diesem Blog: Amazing Stories


Photo by matthew Feeney on Unsplash

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