Auf die Ecken und Kanten kommt es an

 

Wenn wir Bilder betrachten, setzt unser Gehirn auf Arbeitsteilung. Die Information, die wir von unserem Auge erhalten, wird auf zwei Informationsstränge aufgeteilt: 1. Den »Was-Strom«: alle Informationen, die für das Erkennen von Objekten wichtig sind (Form-, Muster- und Farberkennung). 2. den »Wo-Strom«: alle Informationen, die uns bei der Bewegungs- und Positionswahrnehmung helfen. Ein Teil der Nervenzellen unseres visuellen Systems konzentriert sich ausschließlich auf den »Was-Strom«, um möglichst schnell Objekte erkennen zu können. Schon die Netzhaut hilft bei der Differenzierung mit, Figuren von flächigem Hintergrund abzugrenzen. Entscheidend sind dabei die Ecken und Kanten.

Konturen definieren die Grenze zwischen Figur und Grund, und nur mit ihnen können wir Objekte vom umgebenden Raum unterscheiden. Manche Objekte können wir allein anhand ihrer einprägsamen Kontur identifizieren. Fehlen klare Konturen, so müssen wir schon genauer hinsehen, wie in der ausgezeichneten Anzeigenkampagne des WWF Deutschland „Der Regenwald stirbt nicht allein“.

Gesichter mit Ecken und Kanten

Besonders begabt sind wir beim Erkennen von Konturen, Linien und Schatten, die zusammen ein Gesicht ergeben. In unserem temporalen Cortex gibt es Bereiche, die ausschließlich auf die Identifizierung von Gesichtern spezialisiert sind. Oft genügen uns Grundelemente wie zwei Punkte und ein Strich, um eine Reaktion auszulösen. Für die Identifizierung von Frontal- und Profilansichten von Gesichtern sind unterschiedliche neuronale Bereiche verantwortlich, daher reagieren wir verschieden, wenn wir einen Menschen von vorne oder von der Seite sehen. Wie stark wir auf die Darstellung von Gesichtern fixiert sind, demonstriert Mercedes-Benz – mit einer Kampagne von Jung von Matt. Zur Bewerbung des »Blind Spot-Assist« griff der Autohersteller auf ein aufmerksamkeitsstarkes, aber für unser Auge irritierende Motive zurück. Das Auge springt zwischen Profil- und Frontalansicht hin und her (aber sehen Sie selbst).

Konzepte in unserem Bildspeicher

Bei der Erkennung von Objekten greifen wir auf eine ganze Reihe von spezialisierten Nervenzellen zurück, die sich visuelle Muster und sogar Gegenstände merken und diese mit unserer Seherfahrung abgleichen und später wiedererkennen können. Dazu legen wir in unserem Kurz- und Langzeitgedächtnis visuelle Datenbanken an, die wir immer wieder abrufen können, wenn wir gleiche oder ähnliche Bilder sehen. Wahrnehmungsinhalte gehen also nicht verloren, wenn wir etwas gesehen haben, sondern bleiben in unserem Bildspeicher erhalten. Dieser unterteilt sich in drei verschiedene Systeme: 1. Das ikonische Gedächtnis speichert für sehr begrenzte Zeit (kürzer als eine Sekunde) relativ große Informationsmengen. 2. Unser visuelles Kurzzeitgedächtnis kann Informationen für Minutenbruchteile speichern. 3. Unser visuelles Langzeitgedächtnis hinterlegt Informationen, die wir jahrelang oder gar ein Leben lang abrufen können.

Und damit nicht genug: Wir sind auch in der Lage, ein Objekt, das wir im Bildspeicher haben, aus unterschiedlichen Perspektiven zu deuten und es auch dann zu erkennen, wenn es sich verändert hat. Denken Sie an einen Freund, den Sie lange Jahre nicht gesehen haben. Sie sind in der Lage, ihn zu erkennen, auch wenn er grau geworden ist und sich schon einige Falten im Gesicht zeigen.

Man geht davon aus, dass wir uns Objekte, Gegenstände und auch Gesichter nicht in ihren Details merken, sondern als »Konzepte«. Wir merken uns die entscheidenden Grundmerkmale. Fachleute nennen das »visuelle Invarianz«.

Wie wir Räume erkennen

Unsere Nervenzellen erkennen selbstverständlich noch viel mehr als nur „Objekte“. Eine Vielzahl an Neuronen konzentriert sich auf diejenigen visuellen Reize, die unsere räumliche Ausrichtung definieren: Sie unterscheiden Vorder- von Hintergrund, vergleichen Größenangaben und überprüfen Proportionen. Mit ihnen sind wir in der Lage, räumlich zu sehen, uns zu orientieren und uns verlässlich zu bewegen.

Dass man diese orientierungsselektiven Zentren auch austricksen kann, zeigen Such-, Kipp- und Vexierbilder.

Wir suchen in diesen Bildern „Halt“ – also Informationen, die uns helfen, zu erkennen wo vorne und hinten oder oben und unten sind. Vexierbilder geben jedoch widersprüchliche Informationen. Haben wir diese gefunden, springen unsere Augen hin und her. Wir können uns nur schwer entscheiden, welche Betrachtungsweise die endgültige, die »richtige« ist.

Wenn es nicht absichtlich ausgetrickst wird, informiert uns unser visuelles System zuverlässig über Vorder- und Hintergrund, Perspektive sowie Größenverhältnisse. Sehen ist aber eine zweidimensionale Angelegenheit. Bilder, die auf unserer Netzhaut abgebildet werden, sind zweidimensional (ausgenommen 3-D-Effekte in Bild und Film). Trotzdem meldet uns unser Gehirn zuverlässig, ob Flächiges zu sehen ist oder es sich bei dem Abgebildeten um räumliche Tiefe handelt. Manchmal benötigen wir dazu jedoch kleine Zusatzinformationen, wie die folgenden Würfel veranschaulichen.


Also – sehen Sie gut hin. Es könnte sein, dass Ihre Augen Ihnen einen kleinen Streich spielen. So wie in diesem Werbespot von Hyundai, wo so Manches anders erscheint als es ist: Honda Illusions


Mehr Infos, Hintergrundwissen und Beispiel zum Thema „Visuelles Erzählen“ finden Sie in dem Buch „Visual Storytelling: Visuelles Erzählen in PR und Marketing“ von Petra Sammer und Ulrike Heppel, O´Reilly – aus dem dieser Textauszug stammt.



Photo by Norbert Levajsics on Unsplash - and by Ulrike Heppel


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