Ich, ich, ich - Selfies verändern die Mediennutzung


Am 11. Januar 2000 beschließt der Fotograf und Künstler Noah Kalina, sich täglich selbst zu fotografieren. Immer in der gleichen Pose und mit dem gleichen Gesichtsausdruck. Zwölfeinhalb Jahre ´lang produziert er jeden Tag ein »Selfie«. ´Nach 4.545 Tagen montiert Kalina diese Bilder zu einem Film zusammen, den er auf Vimeo und YouTube veröffentlicht. »Everyday « zeigt die Wandlung eines jungen, glattrasierten 19-jährigen Teenagers zu einem reifen Mann im Alter von 32 mit Vollbart – in 4.545 Selbstportraits. Bis heute wurde Noah Kalinas Film auf YouTube über 26 Millionen Mal angesehen: ein Siegeszug des Selfies.

Seit Erfindung der Fotografie stand der Fotograf traditionell hinter der Kamera. Der Macher des Bildes war nie sichtbar, er blieb anonym. Urlaubsfotos waren geprägt davon, dass man den Fotografen nie zu Gesicht bekam, als wäre er gar nicht vor Ort gewesen. Für eine gemeinsame Aufnahme musste man entweder einen Passanten um Hilfe bitten oder den Selbstauslöser bedienen und schnell ins Bild hechten. Heute halten wir einfach unser Smartphone vor uns und die Sehenswürdigkeit. Wir müssen nicht mehr einen Fremden bitten und hoffen, dass dieser den richtigen Ausschnitt wählt, sondern sind selbst Macher unserer Eigenaufnahme.

Spiegelersatz „Selfie“

Das »Selfie« wird zum Spiegelersatz und zum erfolgreichsten Bildmotiv der Neuzeit: »Rund zwei Drittel (65 Prozent) der deutschen Smartphone-Nutzer ab 14 Jahren machen (...) sogenannte Selfies. Dies entspricht gut 25 Millionen Bundesbürgern. Jeder sechste Smartphone-Nutzer (16 Prozent) macht dies sogar häufig. Vor allem jüngere Smartphone-Nutzer machen gerne Schnappschüsse von sich selbst. 71 Prozent der 14- bis 29-jährigen nutzen ihr Smartphone für Selfies, bei den 30- bis 49-jährigen zwei Drittel (66 Prozent). Selbst von den Senioren über 65 Jahren nehmen 44 Prozent Selbstporträts mit der Handykamera auf. Mit 68 Prozent machen etwas mehr Männer als Frauen (62 Prozent) Fotos von sich selbst. Dabei werden Selfies nicht nur für eigene Erinnerungen aufgenommen. Drei von fünf Selfie-Machern (59 Prozent) teilen ihre Selbstporträts auch in sozialen Netzwerken. 16 Prozent verbreiten sie sogar häufig, ebenfalls 16 Prozent hin und wieder und 27 Prozent zumindest selten. Besonders stechen die jüngeren Altersgruppen zwischen 14 und 29 Jahren hervor. Bei ihnen versenden fast zwei Drittel (64 Prozent) ihre Selfies über Facebook, Google+ oder Instagram. « (Bitcom Studie 2014)

Wir sind also nicht nur Produzenten unserer selbst, sondern zugleich auch Distributoren. Social Media und Co. befähigen uns, unsere Werke jederzeit zu veröffentlichen und sie weitter zu verbreiten. Elf Prozent aller aufgenommenen Fotos werden geteilt, und dies innerhalb von nur 60 Sekunden nach der Aufnahme.

Bildern kommt demnach eine andere Funktion und Bedeutung zu als zur Zeit von Fotokamera und Fotofilm. Heute dienen Fotos nicht mehr nur dem Einfrieren spezieller Momente und Festhalten erinnerungswerter Augenblicke, sondern sie werden mehr und mehr als universelle Form der Konversation genutzt. Das Festhalten und anschließende Teilen banaler Alltagsaufnahmen, in denen wir dokumentieren, wo wir uns gerade befinden, mit wem wir zusammen sind, mit was wir uns beschäftigen oder gar was wir essen – all diese Foto Posts und Shares ersetzen zunehmend Textkonversation. Fotos übernehmen die Funktion von Worten. Statt Buchstaben benutzen wir Bilder, um uns auszudrücken.

»Words are so Generation Y«

Die Journalistin Katherine Rosman widmete im Oktober 2014 einen New York Times-Artikel dem Hype um die Fotocommunity Instagram. Sie beschreibt darin eine neue Generation von Mediennutzern, die mit visueller Kommunikation im Netz groß geworden ist und die Bilder heute schon in ihrer neuen Bedeutung ganz selbstverständlich nutzt: die Generation Z. »Words are so Generation Y« beschreibt den Zeitgeist und das Motto der nach 1995 Geborenen, einer Generation, deren Tagebücher »Pinterest« und »Instagram« heißen und die zur Beschreibung ihrer Gefühle, Erinnerungen und Gedanken kaum Worte verschwendet, sondern sich stattdessen lieber in Fotos ausdrückt.

Die heute 14- bis 19-Jährigen werden 2020 zu einer der größten und interessantesten Konsumentengruppe, die vielen Regionen bis zu 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen wird. Jugendforscher und Marketingexperten beschäftigen sich ausführlich mit dieser Gruppe, insbesondere mit ihrem Kommunikations- und Kaufverhalten, das einen hohen Einfluss auf Medien und Marketing der Zukunft haben wird. Doch was genau unterscheidet diese Jugendlichen von den Generationen vor ihnen, und was sind die damit verbundenen Auswirkungen auf unsere mediale Wirklichkeit? Vier Verhaltensweisen sind interessant:

  1. Partiell aufmerksam: In der Generation Z scheint ADS, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, zum Dauerzustand geworden zu sein und sie macht das Beste daraus. Ständig online und eingeloggt, springen diese Jugendlichen heute nicht mehr wie Generation X und Y zwischen unterschiedlichen Devices hin und her, sondern switchen zwischen multiplen Plattformen und nutzen diese selbstverständlich und spielerisch parallel. Multitasking ist ihre Methode, um Informationen über die unterschiedlichsten Apps aus dem Netz zu ziehen. Nachrichten werden aus Mosaiksteinen unterschiedlicher Quellen zusammengestellt, in Echtzeit konsumiert und weiterverarbeitet.

  2. Digital sozial: Keine Generation ist so vernetzt und mit anderen Menschen verbunden wie Generation Z. Eigene, reale Freunde zählen zu diesem Kreis, aber auch virtuelle Communities und Gruppen, mit denen man Interessen und Neigungen teilt. Und diese Generation steht in ständigem Austausch mit diesen Kontakten: Freunde und Fremde werden kontinuierlich um »realtime feedback« gebeten und in alle Entscheidungen des Lebens einbezogen. Gleichzeitig verinnerlicht die »Gen Z« wie keine andere Generation das Grundprinzip des Networking: kein Nehmen ohne Geben. Teilen wird zum Grundprinzip der jungen Gesellschaft – im digitalen wie auch im realen Leben. Status definiert sich zukünftig nicht über Besitz, sondern über das digitale Sozialverhalten.

  3. Rigoros selektiv: Schon heute sind Jugendliche Meister im Filtern, Aussortieren und Blockieren von Informationen. Sie sind souverän im Umgang mit Medien und Marketing und wissen sehr genau, welche Informationen sie zulassen und welche nicht. Sie sind zynischer und ironischer als ihre Vorgängergeneration und vertrauen ihrer »Peer-Gruppe«. Wer das Internet so beherrscht wie sie, hat »alles« schon gesehen. Und doch suchen auch diese Generationen, wie viele davor, nach neuen Erfahrungen.

  4. Visuell kommunikativ: Der Bildanteil in der Kommunikation ist so hoch wie in keiner Generation zuvor. Anstatt mit Worten tauscht sich Gen Z schnell und unkompliziert mit Emoticons, Schnappschüssen und visuellen Statements aus. Informationen, die sich diese Jugendlichen merken wollen, werden als Bild an die digitale Wand bei Pinterest »gepinnt« und maximal mit Hashtags auf Instagram markiert und spielerisch auf TikTok – in Bild und Ton thematisiert.

Diese Generation will vor allem eines: Bilder. Und Perspektiven, die man nie zuvor gesehen hat.


Tipp: Der Fotograf Murad Osmann fotografiert seine Freundin Nataly Zakharova an den unterschiedlichsten Orten weltweit in der immer gleiche Pose. Sie zieht ihn an der Hand hinter sich her. In den herausragenden Bildern sieht man daher immer nur Osmanns Hand und den Rücken von Nataly. Die Instagram-Sammlung ist auch als Buch erschienen – und stilbildend für zahlreiche Werbekampagnen und Nachahmer: www.instagram.com/muradosmann


Textauszug aus dem Buch „Visual Storytelling: Visuelles Erzählen in PR und Marketing“ von Petra Sammer und Ulricke Heppel, O´Reilly.

Photo by Cody Hiscox on Unsplash

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