Sehnsucht nach dem gesprochenen Wort


»Remember, your audience can read the words on your slides faster than you can speak them.« – Christopher Craf

Die Geschichte der Wissensvermittlung und des gegenseitigen Austauschs unter Menschen war über Jahrhunderte hinweg eine mündliche Angelegenheit. Eltern gaben ihr Wissen an Kinder in Erzählungen weiter, Gesetzestexte wurden mündlich verlesen, Wanderprediger zogen von Dorf zu Dorf und erzählten von rätselhaften Wundern, die die Existenz Gottes beweisen sollten. Frühe Kulturen basierten ausschließlich auf oraler Informationsweitergabe. Auch heute noch steht bei den Aborigines, den Ureinwohnern Australiens, das mündliche Zeugnis im Vordergrund.

Die Macht des Erzählers und die Macht der Worte

Die Erfindung der Schrift im 4. Jahrhundert vor Christus veränderte vieles. Erfahrungsberichte, aber auch Gesetzestexte und Verträge konnten nun verbindlich festgehalten werden, denn die mündliche Wissensweitergabe war nicht verlässlich. Mündlich wurde immer wieder etwas weggelassen, mal etwas hinzuaddiert. Schriftlich fixierte Texte, zumal sie zu Beginn tatsächlich in Stein gemeißelt waren, blieben konstant. Doch Jahrtausende lang blieben die Schriftzeichen eine Geheimwissenschaft, die nur Eliten vorbehalten war. Solange sie das Volk nicht entziffern und lesen konnte, war man immer noch auf mündliche Verlautbarungen angewiesen. Und manchmal war dieses flexible System durchaus von Vorteil für die Mächtigen.

Die Erfindung des modernen Buchdrucks durch Gutenberg um 1450 markierte nicht nur das Ende des Mittelalters, sondern war auch der Beginn einer zunehmenden Alphabetisierung und Literarisierung breiter Bevölkerungsschichten. In den kommenden Jahrhunderten gewann die schriftliche Wissensvermittlung mehr und mehr an Bedeutung und verdrängte mündliche Überlieferung. Wissenschaften wurden in Aufsätzen, Doktorarbeiten, Habilitationsschriften und Lexika festgehalten und weitergegeben. Erzählungen wurden ab dem 16. Jahrhundert in allen Formen und Umfängen niedergeschrieben. Marcel Prousts Buch »Auf der Suche nach der verlorenen Welt« zählt mit 4.195 Seiten zu den wohl umfangreichsten Romanen, die jemals geschrieben wurden.

Überversorgt mit Text

Heute haben wir uns an diese schriftliche Welt gewöhnt und sie ins Internet verlagert. Soziale Onlineplattformen und Messenger-Systeme leiten derzeit allerdings einen neuen Paradigmenwechsel ein: Der Trend geht weg vom Text und hin zum Bild. Visual Turn nennen Kommunikationswissenschaftler diese neue Art zu kommunizieren.

Doch noch überwiegt Text. Die Menschheit hat noch nie so viel geschrieben wie in heutigen Zeiten. Pro Tag werden allein über WhatsApp 455 Milliarden Wörter versendet. Im Durchschnitt ist jede WhatsApp-Nachricht zwar nur sieben Wörter kurz, aber der durchschnittliche User schickt über den Tag verteilt bis zu 40 dieser Nachrichten. Wir sind überversorgt mit Text. Die Bibliotheken sind voll, die Zeitschriftenregale gefüllt, auf Flohmärkten quellen Bücher aus Bücherkisten und die Ansammlung an Texten im Internet hat eine Dimension angenommen, die weit über unser Vorstellungsvermögen hinausgeht. Essayisten, Journalisten, Blogger und Influencer sorgen dafür, dass der Strom an Buchstaben kein Ende nimmt.

Sehnsucht nach Stimme

In all der Überfülle scheint es fast so, als würde eine neue Sehnsucht entstehen. Eine Sehnsucht nach Mündlichkeit. Denn wie lässt sich sonst die wachsende Popularität von Vorträgen und Talkrunden erklären? Die immer länger werdende Liste an Events, Veranstaltungen und Konferenzen, auf der sich Menschen miteinander … reden? Oder der Hype um Podcasts, ein Audioformat, das immer mehr Fans gewinnt, die sich Tipps und Tricks von Experten lieber anhören, als sie zu lesen?

Für Kommunikationsprofi Jonah Sachs sind all dies Zeichen der Rückkehr zum »Mündlichen«. Und Sachs deutet das als Reaktion auf eben dieses textlastige Überangebot, dem wir heute ausgesetzt sind: »The oral tradition that dominated human experiences for all but the last few hundred years is returning with a vengeance. It’s a monumental, epoch-making, totally unforeseen turn of events.«

Wir sehnen uns nach menschlicher Stimme. Denn sie bereichert eine Information um Aspekte, die Text alleine nicht zu geben vermag. Eine Stimme gehört nicht nur der Person, die einen Text spricht oder vorträgt, sie gibt diesem Text auch eine ganz persönliche Note. Die Stimme ist ein starkes Instrument, dessen wir uns selbst viel zu wenig bewusst sind. Zu wenig setzen wir uns in der Regel mit den Möglichkeiten auseinander, die uns die Intonation gibt:
  • Sprachmelodie
  • Klangfarbe
  • Lautstärke
  • Sprechtempo und
  • Pausengestaltung.
Dies sind nur einige der Optionen, mit denen Sie stimmlich spielen können. Probieren Sie es einfach mal aus.

Praxistipp:
Nehmen Sie sich den Manuskripttext Ihrer letzten Reden vor. Oder suchen Sie sich einen TED-Talk heraus. Für jede dieser Präsentationen gibt es ein Manuskript, das Sie herunterladen können – in der Sprache Ihrer Wahl. Suchen Sie sich innerhalb der Rede einen Absatz aus, der Ihnen besonders gut gefällt, und tragen Sie diesen laut in immer unterschiedlicher Intonation vor. Üben Sie. Probieren Sie. Lernen Sie Ihr Instrument »Stimme« kennen.

Vergesst Stimmtrainings, oder?

Mehr müssen Sie auch gar nicht tun. Die Sprachtrainerin Cornelia Moore hält nicht viel von übermäßigem Training der Sprache oder gar der Frage, welche Stimme denn die erfolgreichere ist, um dem Publikum zu gefallen:

»Eine Stimme berührt uns dann, wenn sie authentisch ist, und nicht, wenn sie einem Ideal nacheifert.«

Ein gutes Stimmtraining hebe die Stimme daher nicht auf eine bestimmte Höhe, sondern befreie sie von falschen Erwartungen, so Moore.

Und oft ist weniger auch viel mehr. Dies bewies Emma Gonzales am 24. März 2018 auf eindringliche Weise. Die 18-Jährige steckte mitten in ihrer Abschlussarbeit an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida, als sie miterleben musste, wie der 19-jährige ehemalige Schüler Nikolas Cruz kurz vor Schulschluss um 14:40 Uhr mit einem halb automatischen Gewehr ihre Schule betrat, den Feueralarm auslöste, mehrere Rauchbomben zündete und anschließend 200 Mal wahllos in die fliehende Menschenmenge feuerte. Vierzehn Kinder und drei Lehrer verloren an diesem Nachmittag ihr Leben, weitere fünfzehn Schüler wurden verletzt.

Dies geschah am 14. Februar 2018. Das Parkland-Massaker war das achtzehnte »School Shooting« in diesem noch jungen Jahr. Wenige Wochen später, im März, stand Emma Gonzales zusammen mit einigen anderen Überlebenden vor 500.000 Menschen in Washington auf einer Veranstaltung der Protestorganisation »March of our Lives«. Unter all den Reden, die in Hörweite zum Capitol gehalten und in denen massive Änderungen am amerikanischen Waffengesetz gefordert wurden, ragte der Vortrag von Gonzales ganz besonders heraus. Denn die junge Frau trat ans Mikrofon und begrüßte die Zuschauer kurz, um dann zu schweigen. Ganze sechs Minuten und zwanzig Sekunden lang sagte sie kein einziges Wort. Sie unterbrach dieses Schweigen nicht, als das Publikum langsam anfing, unruhig zu werden. Sie unterbrach es nicht, als sie aufmunternde Zurufe von den Zuhörern bekam. Und sie unterbrach ihr Schweigen auch dann nicht, als ein Veranstalter zu ihr auf die Bühne kam, um ihr zu helfen. Gonzales brauchte dieses Schweigen nicht, um ihre eigene Trauer oder Rührung in den Griff zu bekommen, wie so mancher im Publikum meinte.

Genau sechs Minuten und zwanzig Sekunden lang hatte das Shooting an ihrer Schule gedauert. Es ist eine Zeitspanne, die kurz erscheint, die sich aber sehr lange anfühlt, wenn man sie in Stille – oder eben in Angst – verbringen muss. Emma Gonzales hatte währenddessen siebzehn Freunde und Bekannte verloren. Und genau aus diesem Grund bestand ihre Rede vor dem Capitol in Washington am 24. März 2018 aus sechs Minuten und zwanzig Sekunden Schweigen.

Manchmal sagt die Stille eben mehr als jede Erzählung.


Wenn Sie sich mehr mit dem Thema Storytelling in Rede und Präsentation auseinandersetzen wollen, dann verweise ich Sie gerne auf mein Buch, aus dem dieser Text stammt: What´s your Story? Leadership Storytelling für Führungskräfte, Projektverantwortliche und alle, die etwas bewegen wollen, O´Reilly, 2019.

Wenn Sie sich mehr mit Ihrer Stimme beschäftigen wollen und Interesse haben „Vocal Make-Up und akustischem Photoshopping“, dann unbedingt reinhören in Alex Wuschels Podcast 337sten Blick in den Tellerrand.

Und Sie wollen noch einen Talk zum Thema "Storytelling" ansehen? Dann interessiert Sie vielleicht mein aktueller TEDx-Talk "Über gutes Storytelling und die dunkle Seite des Erzählens".

Photo by Stephen Harlan on Unsplash

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