Alles zu viel – Warum die herkömmliche Rede nicht mehr funktioniert


Wer heute vor ein Publikum tritt, ganz gleich ob auf einer Bühne oder in einem Meeting, der steht vor einer riesigen Aufgabe. Denn es geht schon lange nicht mehr nur darum, einfach Informationen zu vermitteln. Als Redner arbeiten Sie gegen sinkende Aufmerksamkeitsspannen, sequenzielles Informationsverhalten, inhaltliche und visuelle Reizüberflutung sowie das wachsende Misstrauen gegenüber Autoritäten und Meinungsführern. Effektive Informations- und Wissensvermittlung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist somit zu einer der größten Herausforderungen geworden.

Jede Rede, jedes Gespräch, jeder Vortrag dient der Überzeugung. Manager und Führungskräfte sind Meister in Sachen Überzeugungskraft. Ihr wichtigstes Handwerkszeug ist die Fähigkeit der Persuasion. Sie führen, indem sie ihr Gegenüber – Mitarbeiter, Teammitglieder, Vorgesetzte, Partner, Kunden und Meinungsbildner – über ihre Ziele, Ideen und Strategien informieren, indem sie begeistern und motivieren.

Diese Überzeugungskraft ist heute so entscheidend wie seit den letzten 150 Jahren nicht mehr (…). Wir leben in Zeiten der Veränderung, die von Managern und Mitarbeitern neue Fähigkeiten und Kompetenzen verlangen.

Die Arbeitssoziologin Constanze Kurz listet in ihrem Aufsatz »Innovation und Kompetenzen im Wandel industrieller Organisationsstrukturen« die Kompetenzfelder auf, die entscheidend sein werden:
  • Fachliche Kompetenzen: Dies betrifft alle tätigkeits- und kontextspezifischen Fähigkeiten, die zur Bewältigung einer Aufgabe notwendig sind.
  • Methodische Kompetenzen: Darunter sind alle instrumentellen Fähigkeiten zu verstehen, die der Darstellung, Interpretation und Lösung von Arbeitsaufgaben dienen.
  • Personale Kompetenzen wie Fähigkeiten zur Organisation, Kombination und Entscheidung, zum Umgang mit sich selbst und anderen.
  • Soziale Kompetenzen wie Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten.
Constanze Kurz, die wie viele Wissenschaftler den Wandel der Arbeitswelt beobachtet, betont vor allem die Bedeutung von Interaktions- und Kommunikationskompetenzen. In Zeiten, in denen sich Innovationszyklen immer schneller drehen und die Notwendigkeit zu Wandel und Veränderung für Mitarbeiter und Gesellschaft immer größer wird, ist mehr Erläuterung, mehr Erklärung, mehr Rede unabdingbar. Noch nie war die Kunst der guten Rede, der Präsentation und des gegenseitigen Austauschs so wichtig wie heute. Doch gleichzeitig war es auch noch nie so schwer, Gehör zu finden (…):

Zu viel Information

»Präsentationen scheitern an zu viel Information, nicht an zu wenig.« – Nancy Duarte
Am 6. August 1991 veröffentlichte Tim Berners-Lee die erste Website: info.cern.ch. 23 Jahre später, am 16. September 2014, verkündete Berners-Lee über seinen Twitter-Account, dass die Zahl der Websites auf über eine Milliarde gestiegen war. (…) 2017 waren ca. 1.767 Milliarden Websites im Netz registriert.

Wer Informationen sucht, findet jede Menge davon. Irgendwo. Ein durchschnittlicher Wissensarbeiter in den USA verbringt circa sieben Stunden vor dem Bildschirm und surft pro Tag auf ungefähr 40 Seiten – für berufliche und private Zwecke. (…) Laut Statista wurden 2017 in Deutschland 771 Milliarden E-Mails versendet. Die Prognose liegt bei 917 Milliarden. Büroangestellte checken 50 bis 100 Mal pro Tag ihren E-Mail Eingang (…).

Doch E-Mails sind nur ein Teil der Informationsflut: Alle 60 Sekunden werden 510.000 Kommentare auf Facebook veröffentlicht, 293.000 Status-Updates und 136.000 Fotos pro Minute publiziert. Auf YouTube werden in der gleichen Zeit 300 Stunden Videos hochgeladen. Zusätzlich verlagern sich Kommunikation und Informationsaustausch mehr und mehr auf Messenger-Apps und Networking-Plattformen. Schon heute sendet und empfängt jeder der 1,5 Milliarden WhatsApp- User pro Tag durchschnittlich 43 Nachrichten, die alle gelesen und verarbeitet werden müssen. Kein Wunder also, dass kaum einer mehr zuhört. (…)

Zu wenig Zeit

Dabei ist die Informationsflut gar nicht so sehr das Problem. Ein guter Redner, der ein spannendes Thema anzubieten hat, könnte immer noch auf die Aufmerksamkeit seines Publikums bauen – wenn da nicht die Uhr ticken würde. Zeit ist kostbar.

Onlinemagazine informieren ihre Leser über die wahrscheinliche Lesezeit eines Artikels. (…) Leser werden auf zeiteffizientes Lesen trainiert. E-Reader und Tablets erfassen, wie oft man umblättert, und berechnen so in Prozent und Minuten, wie lange man für den restlichen Text noch benötigen wird. Internetseiten wie howlongtoreadthis.com geben Auskunft über die Lesedauer von Romanen. (…) Wer schneller sein will, kann mithilfe von Apps wie FastReader seine Lesegeschwindigkeit um das Achtfache erhöhen. Wie beim Autofahren, bei dem das Navigationsgerät in Echtzeit die Fahrtzeit anzeigt und die Ankunftszeit und beste Route errechnet, wird auch die Informationsaufnahme effizienzoptimiert – egal ob Nachrichten, Hintergrundinformationen oder auch Unterhaltung.

Redner, die sich auf ein zeitoptimiertes Publikum einstellen müssen, benötigen daher weit mehr als nur ein interessantes Themenangebot: Sie brauchen eine Präsentationsweise, die ihre Zuhörer die Zeit vergessen lässt.

Zu wenig Konzentration

Der Zeitaspekt stellt für einen guten Redner aber immer noch nicht das größte Problem dar. (…) Laut einer Umfrage von Mind Store Marketing schaut über die Hälfte der Smartphone-Nutzer alle fünf bis zehn Minuten auf ihr Gerät. (…) Noch unruhiger geht es am Arbeitsplatz zu: McKinsey fand heraus, dass Arbeitnehmer alle drei Minuten in ihrer Arbeit unterbrochen werden. Die Gründe dafür sind bekannt: digitale Kommunikationstools, automatisierte Alert-Funktionen, Ablenkungen über soziale Netzwerke, Infotainment Seiten und sonstige Störfaktoren (…). Überall pingen uns Kollegen und Freunde an, poppen Hinweise auf und bitten Menüfenster um Hilfe und Mitarbeit. Die Aufmerksamkeit von Wissensarbeitern wird in Scheibchen fragmentiert.

Die Unternehmen kostet diese Unterbrechermentalität eine Menge Geld. Bis zu 28 Prozent der Produktivität geht so täglich verloren.

Wen diese Zahl nicht alarmiert, der sollte zumindest aufhorchen, wenn der Psychiater Edward M. Hallowell moderne Arbeitsplätze dafür verantwortlich macht, stressbedingtes ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung) zu fördern. Hewlett-Packard konnte in einer Studie nachweisen, dass der Intelligenzquotient von Wissensarbeitern aufgrund ständiger Arbeitsunterbrechungen und segmentierter Kommunikations- und Informationshäppchen um bis zu 10 Prozent sinkt. Dies ist doppelt so viel wie durch das Rauchen eines Joints, wie Kommentatoren der Studie bemerkten (...).

Redner müssen sich heute also auf ein immer kritischeres und ungeduldigeres Publikum einstellen. Ein Publikum, das mit besonderen Angeboten angesprochen, informiert, unterhalten und auch bei Laune gehalten werden will – ganz besonders in Anbetracht eines stressigen Zeitmanagements und des effizienten Haushaltens mit der eigenen Zeit.

Zu komplex

»Die Komplexität, die unser Unternehmen in den nächsten fünf Jahren bewältigen muss, liegt außerhalb des messbaren Bereichs – auf einer Skala von 1 bis 5 würde ich ihr 100 geben.« – Edward Lonergan, President und CEO, Diversey, Inc. (IBM CEO Study)
Pelikan oder Geha? Pepsi oder Coke? McDonalds oder Burger King? Michael Jackson oder Prince? Franz Josef Strauß oder Helmut Schmidt? Die 70er- und 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind in der verklärten Rückschau eine Zeit einfacher Entscheidungen. Es gab nur ein Entweder-oder. Heute erscheint uns die Welt wesentlich komplexer. Coca-Cola bietet über 27 unterschiedliche Cola-Getränke an, und der Musikmarkt hat sich in unzählige Nischengenres aufgefächert (…).

2010 fragte IBM in seiner CEO-Studie über 1.500 Geschäftsführer weltweit nach den größten Herausforderungen der Zukunft. Die Mehrheit der CEOs war sich einig, dass wir auf eine »völlig andere Welt« zusteuern, eine Welt, deren Komplexität immer schwerer zu managen ist. Über die Hälfte der Befragten hatte sogar Zweifel daran, dass sie in der Lage sein werden, diese Komplexität zu beherrschen (…).

Wir sind also gut beraten, uns mit der Dynamik und Komplexität der neuen Welt auseinanderzusetzen und lernfähige sowie flexible Organisationen zu schaffen, die mit komplexen Systemen umgehen können und die vor allem in der Lage sind, diese Welt besser verständlich und zugänglicher zu machen.

Informations- und Kommunikationsangeboten kommt dabei eine tragende Rolle zu. Nur wem es gelingt, komplexe Fakten und Daten in tatsächliches Wissen zu wandeln, kann Informationen sinnvoll nutzen.

Dies bedeutet eine große Verantwortung für Redner und Präsentatoren, die gegen ein konstant überfordertes Publikum antreten, das – zu allem Übel – dem Redner auf der Bühne meist nicht einmal traut. 

Zu wenig Vertrauen

»Wenn Menschen nicht mehr zwischen Fakten und Falschinformationen unterscheiden können, hat das grundlegende Folgen für unseren gesellschaftlichen Diskurs und den Zusammenhalt.« – Susanne Marell, ehemals CEO Edelman.ergo
(…) Fake News, Meinungsmanipulation, fehlende Möglichkeiten und mangelnde Kompetenz, Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können, verstärken das Misstrauen gegenüber Meinungsmachern und Multiplikatoren. (…) Nie seit Erhebung des Edelman Trust Barometer 2001 wird Medien weltweit weniger vertraut als heute, allen voran den sozialen Medien.

Wer heute vor ein Publikum tritt, ganz gleich ob auf einer Bühne oder in einem Meeting, der steht vor einer riesigen Aufgabe. Denn es geht schon lange nicht mehr nur darum, einfach Informationen zu vermitteln. Als Redner arbeiten Sie gegen sinkende Aufmerksamkeitsspannen, sequenzielles Informationsverhalten, inhaltliche und visuelle Reizüberflutung sowie das wachsende Misstrauen gegenüber Autoritäten und Meinungsführern. Effektive Informations- und Wissensvermittlung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist somit zu einer der größten Herausforderungen geworden.

Geschichten sind doch keine Lösung, oder?

Am 9. April 2014 griff Dieter Zetsche nach 34 Minuten seiner Rede auf der Hauptversammlung der Daimler AG in die linke Innentasche seines Jacketts und zog einen Brief hervor. In der Regel sind Reden auf Aktionärsversammlungen nicht sehr emotional. Dem Publikum wird einmal im Jahr die Bilanz präsentiert, und am Ende wird es mit einem positiven Ausblick aufs kommende Jahr entlassen. Das Management zählt in sachlichem Tonfall Schritt für Schritt auf, was geleistet wurde. So erläutert auch Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender der Daimler AG, auf der Jahreshauptversammlung 2014 in Berlin über eine halbe Stunde lang die Erfolge und Errungenschaften seines Unternehmens.

Doch plötzlich – beim Agenda-Punkt »Fahrzeugsicherheit« – zieht er aus der Jackentasche ein Blatt Papier hervor. Es ist der Brief eines spanischen Kunden namens Juan, der sich mit freundlichen Worten bei den Ingenieuren von Mercedes-Benz bedankt. Warum?

Ein Autofahrer hatte eine rote Ampel übersehen und war daher mit voller Wucht in den Wagen gerast, in dem Juan und seine Freundin gesessen hatten. Ein furchtbarer Unfall, den das Paar unverletzt überlebte. Doch die beiden trugen nicht einmal eine Schramme davon, obwohl ihr Wagen, ein Mercedes CLA, schwer beschädigt worden war. In dem Brief, den Zetsche seinen Aktionären vorliest, erzählt der Kunde von diesem Vorfall und bedankt sich schließlich bei Mercedes für die Sicherheitstechnik, die sein und das Leben seiner Freundin gerettet hat. Ende gut, alles gut.

Eine kleine Geschichte – erzählt inmitten einer sonst sehr nüchternen Rede als Beweis für
Fahrzeugsicherheit und Kundenzufriedenheit – löst plötzlich Zustimmung und sogar Beifall der Aktionäre in Berlin aus, gibt dem Auftritt des Vorsitzenden der Daimler AG eine ganz persönliche, emotionale Note und zeigt vor allem die Kraft des Geschichtenerzählens (…).

Was in einer Aktionärsversammlung bewusst inszeniert ist, ist uns eigentlich im Alltag selbstverständlich. Täglich erzählen wir Geschichten und Anekdoten. Der Psychologe Dr. Robin Dunbar von der University of Liverpool konnte nachweisen, dass 65 Prozent unserer täglichen Konversation aus persönlichen Geschichten besteht.

Und wir wecken so die Aufmerksamkeit unserer Freunde, Familienangehörigen und Bekannten – wir bekommen deren wertvolle Zeit, deren Konzentration und stärken deren Vertrauen in uns.

Storytelling ist also eigentlich etwas ganz Natürliches in unsere Kommunikation - wenn wir uns mit anderen Menschen austauschen. Warum fällt es dann so schwer, Storytelling in der professionellen Arbeitswelt anzuwenden? Also nur Mut: präsentieren Sie weniger und erzählen Sie mehr.

Wie? Tipps und Tricks zum Storytelling in Rede und Präsentation finden Sie in dem Buch, aus dem auch dieser Text stamme: „What´s your Story? Leadership Storytelling für Führungskräfte, Projektverantwortliche und alle, die etwas bewegen wollen“ – ein Buch, das allen Mut macht, mehr zu erzählen anstatt nur zu präsentieren. Erschienen bei O´Reilly, erhältlich bei Ihrem Buchhändler, bei amazon, bei O´ReillyThalia oder auch GenialLokal – ganz wie Sie wollen.

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