Keine Zeit für Nostalgie - Cannes Lions 2024 - Sammery 1

 

Jetzt bloß nicht nostalgisch werden. 2014 war ich zum ersten Mal in Cannes in der Jury - für die PR Lions. Und da liegt es nahe zu vergleichen - was vor zehn Jahren anders war, als heute. Aber das ist eine ganz schlechte Ideen, denn als erstes müßte man bei sich selbst anfangen - und man wird ja nicht jünger. Nur die Kollegen und Kolleginnen, die hier auf der Croisette auflaufen, die werden es. Also weg mit der Nostalgie. 

Obwohl mich die Vergangenheit dann doch gleich in der ersten Keynote einholt. Japans legendäre Agentur Dentsu blickt auf sagenhafte 120 Jahre Firmengeschichte zurück (und sie legen damit 20 Jahre im Vergleich zu Ketchum drauf, die letztes Jahr 100 Jahre feierten).  Unter dem Titel "From Innovating to Impact - 120 Years of Innovation" listet Dentsu´s Chief Creative Officer Yasuharu Sasaki fünf Prinzipien auf, an denen sie Kreativität und Innovation ausrichten. Und gleich bei Prinzip Nummer 1 kommt mein nostalgischer Moment:

1. Respect the Past - to create the future

Rückschau ist also wichtig. Wen wundert es, liegt die Verehrung der Vergangenheit doch tief in der japanischen Kultur. Eine amerikanische Agentur hätte das sicher anders formuliert. So hört es sich aber sehr richtig und weise an. Nach nur acht Minuten fällt auch schon der Begriff "story" mit "listen to stories of the past". Klar, dass ich da aufhorche. Aber richtig Gänsehaut-Feeling bekomme ich, als eine Kampagne aus der Vergangenheit gezeigt wird, die genau dieses Prinzip verdeutlicht. Eine Kampagne aus dem Jahr 2014. Ja genau, aus meinem ersten Jury-Jahr und ich werden den Moment nie vergessen, als wir dieses Kampagne im Jury-Raum besprachen. Der Brasilianer neben mir brach gleich in Tränen aus, eigentlich heulten alle sportbegeisterten Männer und Frauen im Raum nach dem Kampagnen-Video. Nur unsere amerikanische Jury-Präsidentin war verwirrt, denn die Sportart und die Namen sagten ihr leider gar nichts. Die Rede ist von der großartigen Honda-Kampagne "Ghost Lap". 1989 stellte Ayrton Senna, der bis heute in Brasilien als Heiliger verehrt wird, in Suzuka einen legendären Weltrekord auf - mit einem Honda-Motor. Anlass für Honda, seinen Geist wieder auferstehen zu lassen und den Motorensound, der damals aufgenommen wurde, in eine Licht-Installation zu verwandeln (mit Hilfe von Dentsu). So sieht man scheinbar den "Geist von Ayrton Senna" nochmals die Runde machen. Für Fans eine unvergleichbare, wunderbare Aktion. Und ganz kurz konnte man sie im Debussy-Theater in Cannes jetzt nochmals sehen.

Well, the Past

Die Vergangenheit holt einen hier ohnehin überall ein. Die Macher der CannesLions haben sich dieses Jahr wohl gedacht, man macht den Kreativen Mut, indem man die alten Sachen wieder aus dem Schrank holt und in die glorreiche Vergangenheit schaut. Überall finden sich Billboards, Displays und Aufsteller mit Motiven alter, legendärer Werbekampagnen - wie SuperHuman oder Gorilla von Cadbury.

Ach ja, zurück nochmals zu Dentsu. Denn die hatten ja fünf Prinzipien versprochen. Hier also die fehlenden:

2. Have an Outlier perspective

Eine Aussenseiter-Perspektive? Das ist interessant und zeigt, wie weit weg Japan doch ist vom Rest der Welt ist. Denn in den USA oder Europa scheint es eigentlich nur noch Gruppen-Perspektiven zu geben - vielmehr die Ansicht gegenseitiger Gruppen. Man ist entweder für etwas oder gegen etwas. Die Idee des "Queerdenkens", die hier gefordert wird, ist irgendwie fatal verloren gegangen (sogar das Wort "queer" kann man nicht mehr unvoreingenommen verwenden).

3. Discover new emotions and connections - you have never experienced before

Das klingt spannend, richtig? Aber kurz mal nachdenken: Verbindungen, die man noch nie zuvor gemacht hat? Das kann ich mir gut vorstellen, aber Emotionen? Da gibt es doch die fundamentalen Grundemotionen, die Paul Ekman beschrieben hat - und die man wunderbar im Pixar Film "Inside Out" sehen und erleben kann (gerade eben kam Teil 2 heraus und Riley, das Mädchen, das wir aus Teil 1 kennen, kommt in die Pubertät. Da kommen jede Menge neue Emotionen hinzu - großer Spaß!). Was sind das also für "neue Emotionen", die man so noch nie erfahren hat? 

Dentsu gibt zwei Beispiele - und beide sind, hmm, wie soll ich das sagen ... sehr asiatisch, oder? Beispiel eins: Hugties - eine Körperanzug, der elektronisch und sensorisch mit einem Torso verknüpft ist. Wenn man den Torso umarmt, dann spürt man über den eigenen Körperanzug seine eigene Umarmung. Seltsam, oder? Oder BabyFace - eine Maske, die man über dem Mund trägt und mit der man selbst erleben kann, wie es sich anfühlt, wenn man als Baby nicht sprechen kann. Ganz ähnlicher Effekt wie bei einem Fat-Suit. Bischen cringe, aber schön langsam wird klar, auf was das alles hinausläuft.

4. Mix. Augment. Make new.

Jetzt kommt das nächste Buzz-Word der Marketing-Branche und überhaupt: AI. Oder eigentlich müsste man sagen AR. Denn Augmented Reality scheint das neue große Ding zu sein. Ja, wir hatten schon und die klobigen VR-Brillen überzeugten nicht - auch wenn Meta sich das wünschen würde. Aber mit künstlicher Intelligenz, mit AI, kommt jetzt eine neue - viel spannendere Welle. Und das bringt Dentsu dann zum fünfte Prinzip seiner Innovationsphilosophie:

5. Use Technology to Augment HUMANITY

Technik soll dem Menschen dienen - und das ist dann wohl das große Credo der CannesLions2024. Überall bemüht man sich die großen Versprechungen, aber vor allem auch die großen Schreckgespenste von AI zurückzunehmen, zu relativieren und zu versachlichen. Der Hype rund um AI ist durch. Jetzt geht es um die tatsächliche, nützliche Anwendung. 

Aber bitte nicht zu früh freuen, denn noch steckt das alles in den Kinderschuhen, so wirklich weiß noch keiner was genau denn nützlich sein wird und wo der Segen für die ganze Menschheit liegen wird. Aber Dentsu erleichtert schon mal für eine kleine Gruppe von Menschen mit Augmented Technology und AI das Leben - und demonstriert das mutig und live gleich auf der Bühne:

Aus Japan schalten sich drei Jungs per Videokonferenz ein - und auf der Bühne darf eine amerikanische Teilnehmerin live mitmachen. Die vier spielen Rocket League, ein einfaches Spiel, bei dem man mit Hilfe von virtuellen Autos einen Ball ins Tor schubsen muss. Das Besondere: die drei Jungs aus Japan sind alle schwer krank, leiden an Muskelschwund, können Arme und Beine nicht bewegen und steuern daher das eigene Auto per Augenkontakt oder mit den Wangen. All dies ist möglich dank neuer Technologien - die sich auch eine Werbeagentur wie Dentsu zu nutze macht und seine Innovationen dann eben nicht mehr nur ästhetischer und zu Wow-Zwecken entwickelt, wie bei "Ghost-Leap" oder zu Demonstrationszwecken wie bei "BabyFace" , sondern Innovationen erarbeitet, die tatsächlich das Leben von Menschen erleichtern.


Der Wunsch

Der Wunsch von Werbern, nicht nur zu "kommunizieren", sondern auch tatsächlich etwas in der Welt beizutragen, ist keineswegs neu. Das war 2014 deutlich zu sehen und in so vielen CannesLions-Festivals davor. Auch in diesem Jahr ist die Sehnsucht besonders groß, nicht nur Marktschreier zu sein, sondern einen Anteil daran zu nehmen, die Welt zu beeinflussen. Und wenn auch nur für eine ganz kleine Zielgruppe. Und wenn auch nur für einen kurzen Moment. 

Aber dann heißt es ganz schnell wieder - hey, wir sind in Cannes, hey, wir sind an der Croisette - - wie in all den Jahren zuvor: Party On! 

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