Effekthascherei – mit der richtigen Geschichte

 

Storytelling ist die älteste Form der Informationsvermittlung. Seit über 40.000 Jahren geben Menschen ihre Erfahrungen von Generation zu Generation in Form von Geschichten weiter. Und obwohl wir an prähistorischen Höhlenmalereien sehen, dass Menschen schon früh versuchten, Geschichten in Bildern zu fixieren, war die vorherrschende Form des Geschichtenerzählens – bis tief ins Mittelalter hinein – mündlich.

Märchen, Fabeln, aber auch historische Erzählungen wurden vorzugsweise mündlich weitergegeben. Ab 1450 sollte sich das für immer ändern. Johannes Gutenbergs Buchdruck ermöglichte den Zugang zu Buchwissen und Literatur. Die Verwendung beweglicher Buchstaben vereinfachte die Produktion und unterstützte die massenhafte Verbreitung von Text. In den darauffolgenden 400 Jahren löste das geschriebene Wort – zumindest in der westlichen Welt – das mündliche Storytelling in weiten Bereichen ab.

Bücher, Bücher, Bücher – Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erreichte die Literatur ihren Höhepunkt. Unter den meistverkauften Büchern aller Zeiten sind Autoren ebendieser Epoche, wie Charles Dickens, Agatha Christie und John R. R. Tolkien. Dickens historischer Roman »Eine Geschichte aus zwei Städten« verkaufte sich bis heute 200 Millionen Mal, Tolkiens »Herr der Ringe« insgesamt 150 Millionen Mal, und Agatha Christie kommt mit ihrem Kriminalroman »Und dann gabs keines mehr« auf 100 Millionen Verkäufe. Die Spitzenplätze dieser Liste belegen geschichtenreiche Bücher wie die Bibel und der Koran.

Der Höhepunkt der geschriebenen Literatur war aber auch gleichzeitig der Wendepunkt, denn Joseph Nicéphore Niépce schoss 1826 aus seinem Fenster das erste Foto und 69 Jahre später, am 28. Dezember 1895, zeigten die Brüder Lumière im Grand Café in Paris einem erstaunten Publikum erstmals bewegte Bilder: die Geburtsstunde der Cinématographie.

Alles neu und doch bleibt es beim alten

Fotografie und Film entzogen der Buchliteratur nicht nur kontinuierlich Publikum, sie entwickelten sich in den folgenden 120 Jahren auch rasant weiter und übten in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit einen erheblichen Einfluss auf die Art des Geschichtenerzählens aus. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, stehen wir vielleicht wieder vor einem Paradigmenwechsel, ähnlich wie bei der Einführung des Buchdrucks und des Films: Die Digitalisierung von Foto und Film gestattet allen den Zugang zu neuen Formen des Geschichtenerzählens. Produktion und Verbreitung visuell erzählter Geschichten sind mit Computer und Smartphone einfach und von überall aus machbar. So wie der Buchdruck vor 565 Jahren den Siegeszug von Text und Schrift einläutete und damit das orale Storytelling weitestgehend ablöste, scheint heute die Digitalisierung Geschichten den Vorzug zu geben, die visuell erzählt werden. Wie umfassend diese Ablösung ist, wird die Zukunft zeigen.

Nicht gestillter Hunger

So sehr sich die Formate des Geschichtenerzählens im Laufe der Zeit und aufgrund neuer Technologien auch immer wieder gewandelt haben, so sehr ist – durch alle Jahrhunderte hindurch – der Hunger nach guten Geschichten geblieben. Egal ob als Märchen oder als Gute-Nacht-Geschichte erzählt, in einem dicken Roman gelesen, in einem Fernseh- oder Kinofilm gesehen, als Videogame am Computer oder als Augmented Reality-Story am Smartphone gespielt – guten Geschichten gelingt es immer, unsere Aufmerksamkeit zu wecken und uns in ihren Bann zu ziehen. Immer noch verlieren wir uns in ihren Erzählwelten und identifizieren wir uns mit ihren Helden. All das funktioniert auch heute noch. Oder sogar ganz besonders heute.

Der nicht versiegende Hunger nach Storys und die starke Überzeugungskraft von Geschichten sind der Aufmerksamkeit von Kommunikationsprofis nicht entgangen. Auf der Suche nach neuen Techniken, um Zielgruppen zu erreichen und Kunden zu überzeugen, wird Storytelling seit einigen Jahren als neue Kommunikationsmethode gefeiert und als Antwort auf die Herausforderungen der digitalen Medienlandschaft und das damit einhergehende geänderte Rezeptionsverhalten gehandelt.

Effektvoll

Einer der Auslöser für das große Interesse der Marketingbranche an Storytelling war ein Interview, das der Wirtschaftsjournalist Bronwyn Fryer im Juni 2003 mit dem Drehbuchautor und Trainer Robert McKee für das renommierte Wirtschaftsmagazin Harvard Business Review führte. McKee gilt seit den 80ern in der Unterhaltungs- und Filmbranche als »Papst des Storytellings«. Er unterrichtet Drehbuchautoren weltweit in der Kunst des Geschichtenerzählens; seit 1984 haben über 50.000 Studenten seine Seminare besucht. Sein Buch »Story: Style, Structure, Substance, and the Principles of Screenwriting« gilt als »Bibel« des Scriptwriting. Absolventen, die von McKee in die Kunst des Storytellings eingeführt wurden, haben Hunderte von erfolgreichen Filmen geschrieben und produziert. Zu den bekanntesten davon zählen Forrest Gump, Erin Brockovich, Die Farbe Lila, Gandhi, Schlaflos in Seattle und Toy Story, um nur einige zu nennen. Insgesamt verdanken bisher 18 Oscar-Gewinner und 109 Emmy-Award-Gewinner ihre Auszeichnung Robert McKee.

In dem Harvard-Business-Review-Artikel »Storytelling that moves people« von 2003 verlässt McKee sein angestammtes Feld der Filmindustrie und des Entertainments und erläutert, wie Manager, Unternehmen und Marken von der Kunst des Geschichtenerzählens profitieren können. Die Überzeugungsarbeit, die Unternehmenskommunikation und Marketing ständig zu leisten haben, kann laut McKee auf zweierlei Weise geschehen: Entweder rational und informativ oder emotional und in Form von Geschichten. McKee gibt selbstverständlich der zweiten Methode den Vorzug, dem Storytelling. Und das aus gutem Grund – und mit vier Effekten:
  • Storytelling gelingt es weitaus besser als Fakten und Daten, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu wecken und auch zu halten (Attention-Effekt).

  • Storytelling fördert die Konzentration. Rezipienten verfolgen Geschichten weit länger und konzentrierter, als sie es zum Beispiel bei sachlichen Abhandlungen tun. Geschichten fesseln ihre Zuhörer, ziehen sie in ihren Bann und in ihre Erzählwelt hinein (Immersion-Effekt).

  • Storytelling führt dazu, dass wir uns Informationen besser merken. Durch ihre narrative Struktur verankern Geschichten Informationen und vertiefen das Gelernte im Vergleich weit besser als Aufzählungen, Rankings oder Statistiken (Memory-Effekt) und

  • Storytelling wirkt überzeugender. Geschichten senken das Risiko der Reaktanz eines kritischen Publikums. Durch die Identifikation mit der Hauptfigur und die Empathie, die der Zuhörer einer Geschichte entgegenbringt, wird vorschnelles, kritisches Hinterfragen unterbunden oder zumindest abgemildert und Raum für neue Denkweisen geöffnet (Solidaritäts-Effekt).
Vier starke Gründe dafür, dass Unternehmen und Marken verstärkt auf Corporate Storytelling setzen.



Lesen Sie mehr zum Thema Storytelling in Marketing und PR in „Storytelling – Strategien & Best Practices aus Marketing & PR“. Visuelle Storyteller greifen zu dem Buch, aus dem dieser Text stammt: „Visual Storytelling: Visuelles Erzählen in PR und Marketing“ von Petra Sammer und Ulrike Heppel, O´Reilly – aus dem dieser Textauszug stammt.


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