Über die Hecke blicken: Minimalismus im Storytelling

»Long speeches are the easiest to write. They are also the most forgettable.« – Jon Favreau
Zehn Ingenieurinnen und Ingenieure, alles Mitglieder des VDI, des Vereins Deutscher Ingenieure, kamen an einem heißen Samstagmorgen in Stuttgart im verbandseigenen Fortbildungszentrum zusammen, um an ihrer ganz persönlichen Signature Story zu arbeiten. Für die Techniker war es eine ungewohnte Arbeit. Aus Kindertagen konnte man sich noch an die eine oder andere Geschichte erinnern, die Papa oder Mama am Bett vorgelesen hatte, und auch alle Mütter und Väter im Raum kannten aus eigener Erfahrung das allabendliche Ritual, um die eigenen Kinder ins Bett zu bringen.
Aber heute sollten sie nicht zuhören oder vorlesen, heute sollten sie selbst eine Geschichte schreiben. Eine Story, die symbolisch für ihr Leben oder ihre Arbeitsweise stand und die Auskunft gab über sie selbst als Person. Die Gruppe hatte eine Stunde Zeit. Und die meisten begannen auch sofort mit dem Schreiben – bis auf eine hochgewachsene junge Ingenieurin. Sie griff nicht zum Stift und beugte sich nicht über das Papier, sondern blickte lange zum Fenster hinaus, um erst in den letzten fünf Minuten doch noch etwas aufs Papier zu bringen. Alle Stories wurden anschließend vorgetragen und gemeinsam besprochen. Die Geschichte der jungen Ingenieurin bekam mit Abstand den meisten Applaus:
»Viele Leute erzählen oft so schön aus ihrer Kindheit. Komischerweise kann ich mich an fast gar nichts aus dieser Zeit erinnern. Bis auf eines. Auf ein Detail auf meinem Schulweg. Wir wohnten in einem kleinen Dorf, und ich musste den Weg zum Schulbus bald schon alleine gehen. Von der ersten Klasse bis zum Gymnasium ... ich ging diesen Weg zur Bushaltestelle Tausende Male. Und immer kam ich dabei an einem Grundstück mit einer großen, dichten Hecke vorbei. Schon am ersten Tag, als ich diesen Weg alleine, ohne meine Mama, gehen musste, fragte ich mich, was wohl hinter der Hecke sein möge. Jeden Tag war da diese Frage. Auf dem Hinweg und auf dem Rückweg. Die Hecke war sehr dicht. Und ich war einfach zu klein, um drüberzuschauen. Bis ich, kurz vor dem Abitur, groß genug gewachsen war, um über die Hecke zu blicken. Und ... was soll ich sagen: Da war nur ein Stück Rasen. Nichts Aufregendes. Aber für mich war es einer der größten Tage. Endlich über diese Hecke blicken zu können. Und ich glaube, das ist es auch, was mich auszeichnet. Ich will immer über die Hecke blicken. Ich glaube, ich bin Ingenieurin geworden, weil ich einfach immer dahinterblicken will.«
Weniger ist mehr
Das mag für viele als lästige Binsenweisheit gelten. Doch wer die Regel in seiner Rede, seinem Vortrag, beherzigt, der bringt die Kraft, die in einer Geschichte steckt, erst wirklich zur Geltung. Und so genügt es manchmal, einfach nur über eine Hecke zu sprechen, die Symbol sein kann für ein ganzes Lebensmotto.
Tief oder weit
»Think big, but tell small – short and focused. You have something to say. But don’t run over your audience with all yourwisdom. Help them to follow you.«– Garr Raynolds, der Präsentationstrainer, der seinem Buch den vielsagenden Titel »The Naked Presenter« gegeben hat, rät zu absolutem Minimalismus. Tatsächlich ist eine der größten Schwierigkeiten die Informationsfülle, die manche Redner ihrem Publikum zumuten. Besonders Wissenschaftler neigen dazu, viel an Fakten und Daten, Hintergrund- und Spezialwissen in einen Vortrag zu packen – ohne an die eigentliche Geschichte zu denken.Dieses Überladen von Vorträgen veranlasste den Wissenschaftstheoretiker Michael Alley, Präsentationen in zwei Kategorien einzuteilen:
- Vorträge, die in die Tiefe gehen und ein Thema mit allen Details erläutern und erklären, und
- Vorträge, die in die Breite gehen. Diese bleiben zwar an der Oberfläche, zeigen aber die ganze Bandbreite eines Themas.
Der ehemalige US Vizepräsident Al Gore spricht ebenso über die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik. In seinem TED Talk von 2016 mit dem Titel »Grund zum Optimismus beim Klimawandel« liefert auch er wissenschaftliche Beweise für die Klimakatastrophe. Doch seine Rede geht weniger in die Tiefe, viel mehr in die Breite. Für Gore sind die wissenschaftlichen Details nur Auftakt, um über die Konsequenzen der Klimaerhitzung im Allgemeinen zu sprechen. Wichtig ist ihm die übergeordnete Botschaft seiner Rede und die Motivation und Mobilisierung des Publikums durch seine Präsentation.
»You can go deep or you can go wide but it’s very difficult to do both in a single presentation.« – Michael Alley
Also: schauen Sie mal über die Hecke - und gehen Sie dann entweder tief oder breit in Ihrer Präsentation. Und lesen Sie weiter … in dem Buch, aus dem dieser Text stammt: What´s your Story? Leadership Storytelling für Führungskräfte, Projektverantwortliche und alle, die etwas bewegen wollen, erschienen 2019 im O´Reilly Verlag. Oder aber Sie kommen in eines meiner Workshops und Trainings. Zum Beispiel in das Webinar „Storytelling in Rede und Präsentation“ – am 15. September online. Alle Infos dazu finden Sie auf der Webseite der news aktuell Academy. Ich freue mich auf Sie.
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