Fliegenfischer müsste man sein – über die Kunst, die richtige Story zu finden

»While problems can be summarized in a formula or an algorithm, it takes a story to understand the dilemma.« – Bob Johansen, Institute for the Future
Immer liest man diese schlauen Tipps und ist beeindruckt von den Ratschlägen erfolgreicher Manager und Entrepreneure, die ihre Erfolgsgeschichte selbstlos preisgeben. Wie zum Beispiel Unternehmensberater Darren Menabney, der in dem Businessmagazin FastCompany seine Geschäftsgeheimnisse unter dem Titel »Want To Be A More Confident Speaker?« verrät. Menabney ist der festen Überzeugung, dass jeder eine naturgegebene Veranlagung zum Geschichtenerzähler hat, auch wenn er noch so von Lampenfieber geplagt ist:
»Before your next presentation, set some time aside to brainstorm the stories you already have available from your life. Find one that ties into the topic of your presentation – and, ideally, look for one that’s personal. Talk about overcoming a hardship or about a life lesson you learned, and build that into the presentation.«
Einfacher gesagt als getan. Außer man ist Fliegenfischer.
Dann ist das eine der leichtesten Übungen. Wenn man Fliegenfischer ist, stößt man nämlich irgendwann auf Martin Clemm und Berthold Baule. Der eine, Berthold Baule, ist ein exzellenter Storyteller und Filmemacher, der aber noch nie in seinem Leben eine Angel in Händen gehalten hat. Gerade deshalb ist er fasziniert von der Story des anderen, von Martin Clemm. Clemm ist Jurist. Vor allem ist er aber das, was man einen passionierten Fliegenfischer nennt. Kaum ein Tag vergeht, den er nicht am Wasser verbringt oder an dem er an all die Fische denkt, die er in seinem Leben noch fangen will. Fliegenfischen ist ein komplizierter Sport, den viele mit Golfen vergleichen. Analog zum Abschlag auf dem Green braucht auch der Fliegenfischer jahrelanges Training, bis er den perfekten Wurf, Cast genannt, beherrscht. Perfekt ist der Wurf ohnehin nie. Wie der Golfer lernt auch der Fliegenfischer sein Leben lang. Fliegenfischen ist ein Präzisionssport, der extreme Körperbeherrschung, Konzentration und Ausdauer erfordert. Es ist ein Jagdsport auf eine Beute, die ebenfalls Jäger ist. Forelle und Lachs wissen genau, was es heißt, auf eine Beute zu warten. Dementsprechend wachsam sind diese Fische. Und durchtrainiert. Wer schon einmal einen sechs Kilo schweren Hecht über zehn Minuten an der Angel hatte, weiß, dass der Fisch in seinem Element ist.
Für jeden, der wissen will, wie weit man gehen kann
Martin Clemm liebt diese Momente. Die stillen Stunden am Wasser, das geduldige Warten auf den Fisch, das weite, rhythmische Auswerfen der Angel, das entschlossene Zupacken, wenn der Fisch nach dem Köder, der Fliege, schnappt. Alle, die mit dieser Sportart nichts anzufangen wissen, fragen zu Recht, ob die Story, die Baule und Clemm erzählen, nicht doch nur eine dieser spleenigen Hobbygeschichten ist, die ausschließlich Eingeweihte interessant finden. Dabei fällt auf, dass Baule und Clemm ihrer Story eine mutige Präambel vorangestellt haben:»Für jeden, der wissen will, wie weit man gehen kann.
Über die Suche nach Grenzen, die es nicht geben darf.
Über den Willen, der Unmögliches möglich macht.
Über die Träume, die es wert sind, dafür alles zu riskieren.«
Diese Vorrede dürfte schon Hinweis genug sein, um zu ahnen, dass es hier um mehr geht als um ein bisschen Anglerlatein.
Denn bei dem Fliegenfischer Martin Clemm ist alles anders: Nach einem fatalen Unfall ist Clemm von einem Tag auf den anderen querschnittsgelähmt. Mit 30 Jahren ist er plötzlich an einen Rollstuhl gefesselt. Er kann zwar seinen Beruf als Jurist weiter ausüben, aber er kann nicht aufstehen, nicht gehen, kann sich kaum selbstständig bewegen. Und das Schlimmste für Clemm: »Ich kann die Rute nicht in die Hand nehmen. Ich kann die Schnur nicht halten. Ich kann die Kurbel nicht drehen. Ich kann eigentlich auch mit meinem Oberkörper das Werfen nicht richtig hinbringen.«
Doch der passionierte Fliegenfischer gibt nicht auf. Er lässt nicht von seinem Lebenstraum ab. Er will wieder am Ufer die Rolle surren hören und die Schnur durch die Luft gleiten sehen. Trotz extremer körperlicher Einschränkungen kämpft sich Martin Clemm zurück ans Wasser.
Denn es gibt gute Gründe für seinen Kampf. 30 gute Gründe sogar. 30 Fischarten, die er in seinem Leben noch fangen will. »30 Reasons« heißt die Geschichte, die Berthold Baule und Martin Clemm in einem außergewöhnlichen Filmprojekt erzählen.
Ein Film, der Clemm begleitet, wie er mithilfe von Prothesenbauern und Orthopädiemechanikern wieder etwas Kontrolle über seine Hände zurückgewinnt. Ein Film, der Clemm am Ufer zeigt, zurück am Fluss und am Meer: in Ecuador, in Island, Kolumbien oder Belize. Ein Film, der beide, Baule und Clemm, auf eine Reise schickt … den einen mit Kamera und Mikrofon, den anderen mit Rollstuhl und Rute.
Wenn eine Geschichte in die Hände fällt
Wenn man Fliegenfischer ist, fällt einem irgendwann diese Geschichte in die Hände. Und man beherzigt das, was Darren Menabney sagt:»Before your next presentation, (...) brainstorm the stories you already have available (...). Find one that ties into the topic of your presentation – and, ideally, look for one that’s personal.«
Und so fiel diese Story auch dem Leiter Business Development eines internationalen Chemieunternehmens auf. Einem Manager, der sich vorgenommen hatte, auf der nächsten Vertriebsleitertagung alles anders zu machen. Auf dem Programm dieser Tagung stand ein altbekanntes Thema: Innovation. Ein Begriff, der sich längst abgenutzt hat. Nicht nur in diesem Unternehmen, auch unter Deutschlands Journalisten gehört »Innovation « fast schon zu den verpönten Wörtern. Der Begriff wird einfach zu oft, zu leichtfertig und zu undifferenziert verwendet.
In vielen Firmen hat sich kommunikativ eine gewisse »Innovationsmüdigkeit « eingeschlichen, da nur selten die tatsächlichen Probleme, Anstrengungen und Mühen, die mit echten Innovationen verbunden sind, angesprochen werden. Innovation im unternehmerischen Alltag eines Mittelständlers sieht eben anders aus als in den fancy Labs von Apple und Google. Sie sieht anders aus als die schick designten Endverbraucherprodukte wie iPhone und Tesla, sieht anders aus als schnelllebige Software-Apps, die agil in Design-Thinking-Manier einfach mal am Kunden ausprobiert werden.
Innovation heißt bei vielen Mittelständlern oft Kreativität im Detail. Nicht die Veränderung des Großen und Ganzen steht an, sondern das Justieren winziger Stellschrauben, kleiner neuralgischer Punkte ist entscheidend. Akribisches Projektmanagement, vorausschauende, planerische Denke und Durchhaltevermögen sind die Schlüsselqualifikationen dafür.
Doch so unterschiedlich das Verständnis von Innovation im Silicon Valley und beim deutschen Mittelstand auch sein mag, eines ist gleich: die Haltung, Hingabe und Passion, die hinter jeder neuen Idee und Innovation steckt. Es ist der kompromisslose Wille, die Welt nicht so zu akzeptieren, wie sie ist, sondern sie verbessern zu wollen – gegen alle Widrigkeiten und Widerstände.
Bitte nicht die gleiche Leier
Genau dies sollte Thema der diesjährigen Vertriebsleitertagung sein, auf der der Leiter Business Development seinen Vortrag hielt. Es ging nicht um den großen Wurf, sondern um die kleinen Schritte. Es ging um die Details, die entscheidend sind auf der Suche nach der besseren Lösung. Um die Einstellung und den Antrieb, der hinter jeder Innovation steht.Ein Spirit, den man sich von jungen und jung gebliebenen Unternehmen wie Apple, Google, Tesla & Co. abschauen kann. Doch statt die ewig gleichen Benchmark-Stories und altbekannten Beispiele aus USA zu zeigen, warum nicht einmal etwas anderes wagen? Warum nicht mit einer persönlichen Geschichte beginnen, die eben diese Haltung zum Ausdruck bringt? Einer Geschichte ...
»Für jeden, der wissen will, wie weit man gehen kann.
Über die Suche nach Grenzen, die es nicht geben darf.
Über den Willen, der Unmögliches möglich macht.
Über die Träume, die es wert sind, dafür alles zu riskieren.«
Anstelle der üblichen PowerPoint-Folien ließ sich der Manager dieses mittelständischen Chemieunternehmens auf Storytelling ein.
Anstatt über allgemeine Innovationstrategien zu reden, sprach er über Leidenschaft und Passion für ein ungewöhnliches Hobby. Und er erzählte seinem Publikum, 80 Vertriebsleitern aus aller Welt, die Geschichte eines Mannes, der mit Hingabe die Welt nicht akzeptierte, wie sie war und der 30 gute Gründe aufzählen konnte, um Schritt um Schritt die Welt für sich zu verändern.
Die ungewöhnliche Vertriebs-Präsentation sollten lange in Erinnerung bleiben. Nicht nur, weil ein Fliegenfischer eine Geschichte über einen anderen Fliegenfischer in seine Businesspräsentation eingebaut hatte, sondern weil die Geschichte über Martin Clemm einen Helden zeigt, der mit seiner Haltung Inspiration für jeden sein kann – ganz gleich ob Fischer oder nicht. Und ein Vorbild war - ganz besonders für alle, die nicht an einen Rollstuhl gebunden sind.
»Es kann schwer sein, die Kraft und Magie zu beschreiben, die dem Fliegenfischen eigen sind und wie sie unsere Seele berühren, aber dann und wann stolpert man über eine Geschichte, die dies wundervoll zu artikulieren vermag. Diese Geschichte tut genau das ... aber auf einer ganz anderen Ebene. Sie zeigt, dass Fliegenfischen mehr ist als nur ein Sport, sondern vielmehr etwas, das uns wahrhaft helfen kann,
zu verstehen, was es heißt zu leben.« – Simon Perkins, Orvis Adventures
Fliegenfischer müsste man sein
Ach, Sie sind keiner? Sie gehören nicht zu den 40.000 Männern und Frauen in Deutschland, die an den Haken ihrer Angel ein kleines, selbst gezwirbeltes Knäuel hängen, das liebevoll aus den Borsten eines Eichhörnchenschwanzes und den Federn eines Goldfasans zusammengeschnürt wurde und mit viel Fantasie einer frisch geschlüpften Eintagsfliege ähnlich sehen soll, die nur darauf wartet, von einem Raubfisch wie der Bachforelle knapp über der Wasseroberfläche geschnappt zu werden? Sie gehören nicht einmal zu den 3,3 Millionen Anglern in Deutschland, die im Gegensatz zum rastlosen Fliegenfischer lieber Klappstuhl und Kühltasche an den Teich schleppen, um dort mit Mais, Maden oder selbst gedrehten Lebkuchenboilies Karpfen & Co. anzulocken, gemütlich die Angel auszuwerfen und zu warten, bis ein hungriger Fisch in den farbenfrohen Plastikwobbler darunterhängenden Angelhaken beißt? Nein, Sie sind keiner von beiden? Sie sind kein Angler, sondern werfen nur eine Präsentation oder Rede in die Menge und hoffen, dass jemand anbeißt?Na dann, lassen Sie uns über Ihren Köder sprechen: Was ist eigentlich eine »Geschichte«, und wie wirft man diese ins Publikum, um es nicht nur anzulocken, sondern auch an den Haken zu bekommen?
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