Storyteller: Hacker und Drogendealer
»A great book should leave you with many experiences, and slightly exhausted at the end. You live several lives while reading.« – William StyronErfahrungsabgleich ist einer der wirkungsvollsten und interessantesten Aspekte, mit denen Geschichten ihre Kraft entfalten. Beim Hören einer Story greifen wir automatisch auf unsere bisherigen Erfahrungen zurück und überprüfen, ob wir eben diese Erfahrung, die wir in der Geschichte hören, schon einmal selbst gemacht haben.
Ist das nicht der Fall, können gute Geschichten einen weiteren Effekt auslösen, den Psychologen Stellvertreterlernen nennen. Da wir uns idealerweise mit der Hauptfigur einer Geschichte oder dem Erzähler selbst identifizieren, durchlaufen wir zusammen mit ihm oder ihr die Ereignisse der Geschichte. Stellvertretend für uns durchlebt der Held oder die Heldin der Story die Herausforderungen oder Abenteuer der Geschichte, und wir lernen zusammen mit den Protagonisten, als würden wir die Situation tatsächlich selbst erleben.
Neurowissenschaftler und Psychologen können dieses »Erleben« konkret nachweisen. Véronique Boulenger, Psychologin und Sprachwissenschaftlerin an der Universität von Lyon, zeigt in ihrer Kognitionsstudie, daß Sätze, die eine Aktion oder Bewegung beschreiben – wie zum Beispiel »Pablo tritt gegen den Ball« –, im Gehirn genauso verarbeitet werden, als würde der Zuhörer selbst gegen den Ball treten.
Uri Hasson, Neurowissenschaftler der Princeton University, nennt diesen Effekt »Brain Coupling«. Nach seiner ausführlichen Analyse von Gehirnscans von Erzählern und Zuhörern findet während des Vortrags einer Geschichte eine »Ankopplung« zwischen dem Gehirn des Senders und dem des Empfängers statt. Beim Zuhörer werden die gleichen Gehirnareale aktiviert wie beim Sender. Dadurch kann sogar der Effekt entstehen, dass der Zuhörer eine Geschichte so intensiv wahrnimmt, dass er sie für seine eigene Erinnerung an ein tatsächliches Ereignis hält. Julia Shaw, Kriminalpsychologin der Londoner South Bank University, machte mit einigen aufsehenerregenden Experimenten auf die Gefahren, die dieser Effekt verursachen kann, aufmerksam.
Vorsicht: Memory Hacking
»Ich hacke Ihr Gedächtnis«, sagt Shaw, und tatsächlich gelingt es ihr, gefälschte Erinnerungen in fremde Gehirne mithilfe von Geschichten zu schmuggeln. In nur drei bis vier Sitzungen macht Shaw ihren Testpersonen weiß, sie seien während der Schulzeit auf Mitschüler aggressiv losgegangen oder hätten als Jugendliche etwas gestohlen und die Eltern mussten die Polizei rufen. Dabei ist alles frei erfunden, aber »gehackt und implantiert« von der Kriminalpsychologin. Shaws Methode hat eine Erfolgsquote von bis zu 70 Prozent – nachzulesen in ihrem Buch »The Memory Illusion«.»Eine Erinnerung ist ein Netzwerk aus Gehirnzellen«, schreibt Shaw. »Dieses Netzwerk, das sich über verschiedene Gehirnregionen erstreckt, wird ständig aktualisiert. Seine Funktion ist wichtig für uns und hilft uns zum Beispiel dabei, Neues zu lernen und Problemlösungen zu finden. Das Netzwerk kann daher aber auch manipuliert werden. Jedes Mal, wenn du eine Geschichte erzählst, veränderst du deine eigene Erinnerung daran. (...) Manchmal werden neue Details hinzugefügt, kleine Informationsschnipsel, die du vielleicht von jemand anderem gehört hast. (...) Bilder und Geschichten werden ganz schnell internalisiert«, so die Memory-Hackerin Shaw.
Mit einer einzigen Rede oder Präsentation wird es nicht gelingen, das Gedächtnis des Publikums langfristig zu überschreiben, und doch beweisen die Wirkmechanismen des Brain Coupling und des Erfahrungsabgleichs, welch mächtiges Werkzeug Storytelling in der Hand von Rednern sein kann. (…)
Ersatzdroge Storytelling
Aber Geschichten wirken nicht nur im Gehirn. Sie wirken im gesamten Körper. Und es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, dass Geschichten unseren Körper unter Drogen setzen. Drei dieser »Drogen« sind ganz besonders interessant, denn sie sorgen für:- Aufmerksamkeit,
- Vergnügen und
- Vertrauen.
Paul J. Zak, Neuroökonom und Leiter des Center for Neuroeconomic Studies der Claremont Graduate University, ist es zu verdanken, dass wir um die Wirkungsweise von Geschichten auf unseren gesamten Körper wissen. In seinen Studien ließ Zak Testpersonen vor und nach der Rezeption einer Story Blut abnehmen und wies damit den Anstieg von drei Hormonen und Neurotransmittern nach, die einen ganz entscheidenden Einfluss darauf haben, wie eine Geschichte, und vor allem die Informationen innerhalb der Geschichte, wahrgenommen werden. Eines dieser Hormone ist Cortisol – bekannt als Stresshormon. Cortisol ist ein Steroidhormon, das uns in Alarmbereitschaft versetzt, den Stoffwechsel anregt und unsere Aufmerksamkeit schärft. Wenn wir in unserem Umfeld mögliche oder tatsächliche Gefahrenpotenziale wahrnehmen, sorgt ein verstärkter Cortisol-Ausstoß dafür, dass wir achtsamer und fokussierter sind. Dies gilt auch, wenn wir nur von einer Gefahr oder Warnung hören. Gute Geschichten, die in der Regel mit einem Problem oder Konflikt beginnen, in die der Held und Hauptdarsteller der Geschichte scheinbar hoffnungslos verstrickt ist, lösen eben diese Reaktion aus. (…)
Mit Vergnügen
Der Stress ist dann aber schnell am Ende, denn er wird ausgeglichen durch ein weiteres Hormon, vielmehr einen Neurotransmitter, der durch Geschichten nachweislich im Körper ausgeschüttet wird: Dopamin – bekannt als Glückshormon.Dieser Hormonausstoß ist der Grund dafür, dass der Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschall behauptet, Menschen seien süchtig nach Geschichten. Dopamin ist ein Botenstoff, der die Kommunikation zwischen den Nervenzellen unterstützt. Interessant ist vor allem aber seine psychotrope Wirkung: Dopamin wirkt positiv auf die menschliche Psyche, es ist anregend und motivierend. Ein Dopamin Ausstoß löst in uns freudvolle Zustände aus. Dopamin hat damit eine schützende und stimulierende Wirkung auf unsere Nervenzellen, einen positiven Effekt auf unser Gedächtnis, unser Lernverhalten und unser bewusstes Denken. Warum wir Dopamin beim Lesen und Hören von Geschichten ausschütten, hat vielfältige Gründe: Geschichten stimulieren und motivieren – auf unterschiedliche Art und Weise: Eine gute Geschichte stimuliert uns durch die Erzählweise und den Vortrag (Ästhetik), durch die Storywelt, in die uns die Geschichte einlädt (Immersion), und durch die Sympathie und Empathie, die wir dem Helden entgegenbringen (Identifikation). Mit dem Ergebnis: Dopamin wird ausgeschüttet. Der Held durchläuft, stellvertretend für uns, Abenteuer, Schwierigkeiten und Herausforderungen. Er oder sie steht vor unlösbaren Aufgaben, doch am Ende wird das Problem gelöst und gemeistert: Dopamin wird ausgeschüttet (Belohnungseffekt).
Wir lesen die Geschichte erneut. Denn allein schon Vorfreude kann Dopamin auslösen. Wir lesen eine bekannte Geschichte immer und immer wieder, obwohl wir das Ende kennen. Wir freuen wir uns darauf, wieder und wieder die gleichen Gefühle, die die Geschichte weckt, zu durchleben. Die Vorfreude darauf, dass Dopamin ausgeschüttet werden wird, hat schon den Effekt, dass Dopamin ausgeschüttet wird (Dopplereffekt). Ja, Geschichten können nachweislich süchtig machen. Und gute Redner, die mit Storytelling arbeiten, machen sich das zunutze. (…)
Vollstes Vertrauen
Der Hormoncocktail, den Geschichten unserem Gehirn und unserem Körper verabreichen, wird letztendlich durch ein drittes Hormon abgerundet, und dieses hat es in sich: Oxytocin – bekannt als das Kuschelhormon.Oxytocin reduziert Stress und Angstgefühle, dämpft Aggressionen und macht uns empathischer. Oxytocin wirkt prosozial und fördert das soziale Miteinander, ist ganz entscheidend für die Mutter-Kind-Bindung und stärkt die Paarbindung. »Ohne Oxytocin in Kopf und Körper kein Verliebtsein, keine Zärtlichkeit, vielleicht auch keine Treue, stattdessen unversöhnliches Gezanke. Vor allem aber fehlte einer der wichtigsten Motoren menschlichen Miteinanders: Vertrauen«, schreibt die Journalistin Rafaela von Bredow in ihrem Artikel über ein Experiment, das die Ökonomen Ernst Fehr, Michael Kosfeld und Paul Zak zusammen mit dem klinischen Psychologen und Oxytocin-Experten Markus Heinrichs der Universität Zürich wagten. Die Wissenschaftler wollten herausfinden, ob Oxytocin das Verhalten von Investoren verändert, ob das Hormon nachweislich einen Einfluss auf deren Risikoeinschätzung und wirtschaftliches Verhalten hat.
Dazu verabreichten sie 194 Testpersonen Oxytocin mithilfe eines Nasensprays, wobei die Vergleichsgruppe nur eine Placebo-Substanz einatmete. Anschließend wurden alle Teilnehmer eingeladen, an einer Wirtschaftssimulation teilzunehmen. Die Probanden bekamen eine definierte Summe Geld zur Verfügung gestellt, das sie einem Treuhänder anvertrauen konnten, um den Betrag zu vermehren. Je mehr Vertrauen alle in das Treuhandprinzip hatten, umso höher waren die Gewinnchancen. Allerdings bestand auch das Risiko, das gesamte Vermögen an den Treuhänder zu verlieren. Würde die Erhöhung des Oxytocin-Spiegels die Vertrauensseligkeit der Investoren steigern?
Tatsächlich – Fehr, Kosfeld, Zak und Heinrichs konnten nachweisen, dass Oxytocin wie ein »Weichspüler fürs Gehirn« wirkt. So titelte jedenfalls Rafaela von Bredow ihre Reportage über das Experiment der Wirtschaftswissenschaftler. Alle Probanden, die Oxytocin inhaliert hatten, vertrauten ihrem Umfeld weitgehend und setzten zum Teil hohe Summen aufs Spiel, weit höher und riskanter als die Testpersonen der »Placebogruppe«. Oxytocin verstärkt unsere Empathie und unser Mitgefühl, aber eben auch unser Vertrauen in andere Menschen.
Sollte man diesen Effekt als Redner nicht nutzen? Dazu müssen Sie eigentlich nur im Publikum mit Oxytocin gefüllte Nasensprays verteilen und die Zuhörer vor Beginn der Rede bitten, eine tiefe Prise zu nehmen. Oder aber Sie erzählen eine Geschichte.
Na, neugierig geworden? Dann lesen Sie weiter. In dem Buch, aus dem dieser Textauszug stammt: „What´s your Story? Leadership Storytelling für Führungskräfte, Projektverantwortliche und alle, die etwas bewegen wollen“ – ein Buch, das allen Mut macht, mehr zu erzählen anstatt nur zu präsentieren. Erschienen bei O´Reilly, erhältlich bei Ihrem lokalen Buchhändler, bei amazon, bei O´Reilly, Thalia oder GenialLokal
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