Lesenswert für 2022
Was ich dieses Jahr so lesen - und was ich gerne weiterempfehle:
Januar
Das neue Jahr beginnt - wie bei vielen - mit guten Vorsätzen. Und das bestimmt dann auch gleich die Auswahl meiner Bücher zum Start des Jahres:
- Silvester Neidhardt: Steh jetzt auf! Neustart zu deiner natürlichen Funktionalität. Fachbuch 2021 - Den Lockdown 2021 hat der Fitnesstrainer- und Mentaltrainer Silvester Neidhardt genutzt, um sein Wissen in ein Buch zu kippen. Sympathisch bei diesem Motivationsbuch ist vor allem, dass Neidhart nicht mit den großen Schritten und anstrengenden Ausdauertrainings beginnt, sondern, dass er ein Freund der kleinen Schritte ist. Zu oft hat er bei seinen Patienten erlebt, dass die anfängliche Euphorie und Motivation bereits nach wenigen Tagen und Wochen zusammenschrumpft und von den gesetzten Zielen, sich mehr zu bewegen und bewußter zu bewegen nur wenig übrig bleibt. Daher startet Neidhardt ganz klein, mit einfachsten Übungen ... und die ersten Erfolgserlebnisse führen dann zum nächsten Schritt. Nur so bekommt man die "Sitzathleten", deren Bewegungsapparat durch ewiges Sitzen eingerostet ist, auf die Beine und in die Bewegung. Neidhardt erklärt wunderbar, warum man was tun sollte und zeigt in seinem Buch praktische Übungen, wie man es tun sollte. Einfach und unkompliziert (ganz so, wie er auch im richtigen Leben ist und wie man ihn als Coach erleben kann). Also ... für 2022 ... weniger am Schreibtisch, weniger sitzen und mehr bewegen! Steh jetzt auf!
- Raynor Winn, Der Salzpfad. Roman, 2018. Von Bewegung handelt auch der Salzpfad von Rynor Winn. Und von einer echten Geschichte. Traurig aber wahr: das Ehepaar Winn verliert plötzlich alles, Heim, Job, Einkommen und auch noch die Gesundheit. Obdachlos und mittellos und aus purer Verzweiflung begeben sie sich auf den South West Coast Path - dem längsten Wanderweg Englands, 1000 Kilometer lang - entlang der südlichen Küste Englands. Gnadenlos dem Wetter und den Vorurteilen der Menschen am Küstenwanderweg ausgesetzt, entfliehen Rynor und Moth Winn der Realität und überdenken dann doch langsam ihre Lage. Zum Glück finden sie durch die Wanderung eine Lösung für ihre Situation - so beginnt man durch diese Erzählung dann doch wieder Hoffnung zu schöpfen und dass alles irgendwie dann doch gut enden wird. Ein Motto, das wir ganz besonders für 2022 gebrauchen können.
- Matthias Horx, Zukunftsreport 2022. Fachbuch 2021. Ist dieser Report wirklich 150 Euro wert? Ich denke nicht. Wer einen Blick in die Zukunft für 2022 werfen will, der wird im Zukunftsreport des zukunftsinstituts von Matthias Horx nicht wirklich fündig. Etwas irritierend finde ich auch, dass die Söhne von Matthias Horx in diesem Buch jeweils einen Aufsatz beisteuern dürfen - ist das zukunftsintitut ein Familienbetrieb und legitimiert der Nachname "Horx" für den Blick in die Glaskugel? Um aber nicht nur enttäuscht zu schimpfen, will ich schon erwähnen, dass es einige gute Gedankenanstöße in diesem Zukunftsreport gibt. Und vielleicht ist es genau das, was Horx und das zukunftsintitut auch wollen: eben nicht einfach so in die Zukunft blicken, sondern Gedankenanstöße geben, um die Zukunft aktiv zu gestalten. Na dann ... ran an 2022!
- Karl Stankiewitz, München 1972, Fachbuch 2021. Der Journalist Karl Stankiewitz war live dabei - und hat vor Ort die Olympiade in München miterlebt. In seinem Buch veröffentlicht er erneut Artikel und Kommentare von damals, kommentiert aber auch aktuell, was aus dem Olympiapark und den damals entstandenen Gebäuden bis heute geworden ist. Er erinnert an die guten und die schlechten Zeiten dieses Riesenevents, der wie kein anderer die Stadt geprägt hat - vor genau 50 Jahren.
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Februar
Immer noch Pandemie. Doch mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt und die Inzidenzzahlen rauschen im Hintergrund. Nach Delta kommt Omikron und diese Variante ist wohl harmloser im Krankheitsverlauf - und schwubs ergreifen wir die Chance und beschäftigen uns mit anderen Dingen. All den Dingen, die wir vor zwei Jahren unglaublich wichtig fanden. Aber sind sie das auch heute noch?
- Dave Eggers, The Every, Roman 2021. Unglaublich, wie viele Autoren und Neu-Autoren die Pandemiezeit genutzt haben, um Bücher zu schreiben. Auch Dave Eggers legt nach seinem Erfolg mit "The Circle" nach und schreibt die Geschichte des unheimlichen Technologiekonzerns weiter, der sich im neuen Buch in "The Every" umbenennt und Datentransparenz, Selbstoptimierung und gegenseitige Überwachung weiter steigert. Der Plot ist nicht der Rede wert. Wieder steht eine Protagonistin im Mittelpunkt, die am Ende dann aber doch keinen Unterschied macht. Deswegen sollte man Eggers Buch nicht lesen. Interessanter ist die technologische Dystopie, die er aufzeigt: eine Technik, die ähnlich wie in der Netflix-Serie "Black Mirror" zwar heilsversprechend vermarktet wird, sich schnell aber als Monster entpuppt. Doch wenn man sich die tatsächliche Entwicklung von Meta - also Facebook, Instagram und Co - im realen Leben und ganz besonders während der Pandemie ansieht - dann ist Zukunftsvision von Eggers noch harmlos im Vergleich zu Zuckerbergs Vorstellungen.
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März
Wer denkt, die 2020 und 2021 waren Horrorjahre, der hat nicht nicht mit 2022 gerechnet. Seit dem 24. Februar herrscht Krieg in Europa - so nah, real und fürchterlich, dass es schier unerträglich ist. Die tägliche Corona-Berichterstattung wird abgelöst von der kontinuierlichen Kriegslage in der Ukraine. Truppenverschiebungen, Waffeneinsatz, Flüchtlingsströme. Worte kommen zum Einsatz, die man nur aus Geschichtsbüchern zum Zweiten Weltkrieg kennt. Und wie bei der Pandemie muss man sich immer wieder schütteln, um zu begreifen und zu akzeptieren, dass dies kein böser Alptraum ist, sondern die Realität.
Eine Krise löst also die nächste ab. Doch im Gegensatz zu Corona, sind hier nicht alle im gleichen Boot und das Hoffen auf ein Heilmittel verspricht nicht baldige Besserung. Die Ukrainer müssen das Leid ziemlich alleine austragen und gegen den Wahnsinn in Moskau ist keine Impfung in Sicht. Während bei Corona, Wissenschaftler weltweit zusammenarbeiteten, um einen Plan gegen die Seuche zu entwickeln, ist die Welt gegen Putin ratlos.
Komplett irritierend und auch skuril ist darüber hinaus die Situation im Netz. Dort findet der Krieg mit eigenen Mitteln statt. Propaganda, Manipulation, Deep Fake, Heldensagas, Mythen, Märchen ... das ganze Repertoire der Kriegsrethorik wird ausgepackt und mit voller Wucht und Rafinesse in die Social Media Kanäle gespühlt. Die Ukraniner sind dabei klar die sympathischern, kreativeren, cleveren. Das Bollwerk der russischen Trollfabriken, die angeblich Donald Trump und den Brexit herbeigeredet haben, scheinen ihre ganze Macht nicht entfalten zu wollen. Oder aber sie konzentrieren sich ganz und gar auf das Publikum innerhalb Russlands, um die eigene Bevölkerung weich zu kochen, zu besänftigen, zu belügen.
Brutal ist aber auch eine andere Realität: während in den ersten Tagen der Twitterstrom vollgepackt war mit Kriegsberichterstattung, Lageberichten, politischen und persönlichen Kommentaren und emotionalen Statusreports, schlägt schon nach wenigen Tagen der Gewöhnungseffekt ein und die Timeline geht Stück für Stück zum Alltag über. Und der Krieg verteilt sich im Strom der Nachrichten als wäre es eine Promo für den nächsten Marvel-Film.
Während in Kiew die Bombadierung zunimmt, nimmt die Wahrnehmung im Netz - gefühlt - ab. Man kann es einfach nicht mehr ertragen, all die Bilder der sinnlosen Zerstörung, die Kinder und Frauen, die sich von ihren Männern verabschieden müssen, die eroberten Panzerfahrzeuge, von denen man nicht weiß, ob sie der einen oder anderen Seite gehören und ob man diesen Bildern trauen kann.
Man hat auch den Überblick verloren. Und das Leben muss ja irgendwie weitergehen. Also verdrängen wir, soweit es geht, packen den Krieg in unseren Alltag und in unsere Timeline. Wir hamstern ein bisschen Sonnenblumenöl, ärgern uns über die Spritpreise, machen uns Sorgen um die Weltwirtschaft und stemmen uns in der täglichen Arbeit gegen das Unbill, das langsam durch den Krieg auch hier hinein dringt. Wir tun, was wir meinen zu können. Und haben dabei ein schrecklich schlechtes Gewissen. Haben zwar Decken, Jacken und Lebensmittel gespendet, Geld geschickt, über Airbnb ein Appartment in Kiev gebucht, das man nie besuchen wird, Tickets für den Mykolaiv Zoo gekauft, die man nie einlösen wird und überlegt, wie und wo man Flüchtlinge aufnehmen könnte (wenn da nicht einige gesundheitliche Probleme wären, die man erst einmal selbst in den Griff kriegen muss). Aber all das ist nicht genug. Nicht genug, damit es aufhört. Und damit die Welt wieder so ist, wie man sie sich einst wünschte.
Kann man in dieser Situation überhaupt lesen? Ich versuche es. Merke aber wie schwierig es ist, sich zu konzentrieren . Und schlimmer noch: das Gelesene muss sich sofort an dieser neuen, krassen Realität messen. Das ist unfair gegenüber den Autoren, aber was solls ... jedes Buch hat einen Bezug zur Gegenwart und dieser ändert sich ständig mit jeder neuen Gegenwart. Heute ist diese Gegenwart eben dramatischer als sonst.
- Samira El Quassil & Friedemann Karig, Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Fachbuch, 2021. Jemand sagte über dieses Buch: "Da haben sich zwei Autoren ganz viel Mühe gegeben." Ja, das kann man über El Quassil und Karig sagen. Sie waren fleißig. Sie haben viele Themen zusammengetragen, die mit Narrativen und Storytelling in Verbindung gebracht werden können - von der Bibel bis zu Cancel Culture. Aber das ist leider auch die Schwäche des Buches. Denn mit all der Sammelwut kommt gar nicht zum Tragen, was die Autoren vermitteln wollen. Ausser der Tatsache, dass jegliche Form der Kommunikation eine Form des Geschichtenerzählens ist. Aber mit dieser allumfassenden Definition wird natürlich auch alles beliebig. So richtig der Hinweis auch ist, dass Narrative und Erzählungen das Zusammenleben von Menschen beeinflussen, so altbekannt ist er. Doch es ist ok, dies einem Publikum immer wieder zu erzählen und darauf hinzuweisen. Trotzdem stehe ich dem Buch kritisch gegenüber - und das hat mit der wissenschaftlichen Herangehensweise am Anfang des Buches zu tun. Da werden die Begriff "Narrativ", "Erzählung" und "Geschichte" fein säublerlich getrennt und definiert. Ein toller Anfang. Wenige Kapitel später wird dann aber alles durcheinandergeworfen und die Begriffe "Story", "Mythos", "Narrativ", "Geschichte", "Märchen" und so weiter wahllos und synonym verwendet. Schade. Ach ja und ich habe noch eine Kritik: El Quassil und Karig listen fast nur negative Narrative auf. Es gibt fast kein Beispiel, wo eine Geschichte geholfen hat, die Menschheit zum Guten zu wenden. Aber der Fokus auf Negativbeispiele ist in sich ja auch schon wieder ein Narrativ.
Wie auch immer man die Sammlung von El Quassil und Karig wertet, der Begriff "Narrativ" gewinnt zunehmend an Bedeutung - ganz besonders durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine und ihre Deutung. In unzählingen Beiträgen werden wir darauf hingewiesen, wie stark Putins Erklärungen von Narrativen durchwirkt sind und wie stark die Urkainer und Seleski eigene Narrative nutzen. Am stärksten selbstverständlich das Narrativ "'West versus Ost" - doch das ist nur eines von unzähligen Erzählmustern, die hinter jeder kriegerischen Handlung - so auch dieser - stecken.
April
Gerade war noch Weihnachten - schon steht Ostern vor der Tür. Mit jeder Menge Zeit für Bücher, denn das Weltgeschehen lässt nichts Gutes hoffen, da kann man sich eigentlich nur unter der Kuscheldecke vergraben und für die Zukunft was Schönes lernen.
- Gunther Kress / Theo van Leeuwen, Reading Images - The Grammar of Visual Design. Fachbuch, 2021. In der dritten Edition erscheint dieser Klassiker aus Australien. Die beiden Literaturprofessoren analysieren Bilder entlang sprachwissenschaftlicher Kriterien. Ein sehr interessantes Experiment. Und es gelingt ihnen damit eine "Grammatik der Bildsprache" zu entwickeln. Wichtigstes Learning: Kress und van Leeuwen unterscheiden zwischen konzeptionellen und narrativen Bildern. Und die wiederum haben ihre ganz eigene Sprache.
- Simone Naumann, Fotografie mit dem Smartphone. Fachbuch, 2019. Wer Simone Naumann als Fotografin und als Trainerin kennt, der ist ohnehin begeistert. Denn sie schafft es mit einfachen und klaren Worten zu erklären, was ein gutes Foto ausmacht. Und sie hat für jedes Problem einen einfachen Trick parat, um mit dem Smartphone schöne Bilder zu produzieren. Ihr Buch ist genau so geschrieben, wie sie spricht. Und das ist wunderbar. Denn die 23 Kapitel - von "Der fotografische Blick" bis "Perfekte Feuerwerksaufnahmen" lesen sich flüssig, sind gespickt mit praktischer Hilfestellung und motivieren, mit dem Handy möglichst viel auszuprobieren.
- Charlotte Klonk, Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden. Fachbuch, 2017. Wir nehmen einen Großteil der Welt - des Weltgeschehens - über Bilder (in Tageszeitung, Fernsehen und Internet) wahr. Und bilden uns damit eine Meinung über die Welt. Und genau dieses Prinzip nutzen Terroristen - und machen damit aus Bildern eine Waffe für ihren eigenen Kampf. Das perfide daran: wir Menschen können uns ganz schlecht vor Bildern schützen. Auch wenn man schnell wegschaut, so reichen nur Bruchteile von Sekunden, um ein Bild in unser Gedächtnis einzubrennen. Terror nutzt Bilder - und Charlotte Klonk zeigt detail- und bildreich, dass bereits Attentäter Ende des neunzehnten Jahrhunderts - mit zunehmender Bebilderung von Zeitungen - die Kraft der Bilder nutzten. Bis heute zur Propaganda des IS, der Fernseh- und YouTube-Bilder mit voller Absicht produziert. Sehr sauber recherchiert, sehr ausführlich dargestellt. Das letzte Kapitel "Der Umgang mit Terrorbildern" kommt zwar ein wenig zu kurz - aber vielleicht gibt es auch keine wirkliche Antworten auf die Frage nach dem richtigen Umgang mit diesen Bildern.
- Arthur Koestler, The Act of Creation. Fachbuch, 1964. Das Taschenbuch ist über siebenhundertdreißig Seiten dick. Und ja, ich habe es nicht ganz gelesen. Arthur Koestlers Buch ist ein Klassiker der Fachliteratur zum Thema Kreativität. Mit vielen tiefgreifenden Gedanken zu den Quellen für kreativen Ideen - von Humor bis zu Schmerz. Aber, wie schon gesagt, es ist ein sehr klassisches und sehr tiefgründiges Buch. Und irgendwie habe ich - trotz Pandemie und Lockdown - nicht den Nerv, das bis ins Detail zu lesen. Oder vielleicht liegt das sogar an Pandemie und Lockdown.
- Jonathan Gottschall, The Story Paradox. How our love of Storytelling builds societies and tiers them down. Fachbuch, 2021. Oh Gott, was sind das für Zeiten. 2013 veröffentlichte der gleiche Autor, Jonathan Gottschall, das herrliche Buch "The Storytelling Animal - How stories make us human". Er lieferte darin die beste Argumentationskette, wie Geschichten uns Menschen zu sozialen und empathischen Wesen gemacht haben. Jeder Storyteller, jede Storytellerin kennt sein Buch. Doch acht Jahre später ist etwas passiert. Aus dem überzeugten Advokatus für diese Kommunikationstechnik wurde ein Warner und Kritiker. Die Pandemie und deren Verschwörungstheorien, der Brexit, der Aufstieg und Irrsinn von Donald Trump und die Meinungsradikalisierung in den USA - all das führt Gottschall auf das Wirken von Geschichten zurück. Ein Paradoxon eben, dass Stories so viel Gutes bewirken können. Dass sie aber auch gleichzeitig so verheehrend wirken können, dass man vor Storytellern warnen muss. Ich habe das Buch schweren Herzens gelesen - vieles könnte man darin als "amerikanisch" stigmatisieren. Aber ich fürchte, der Mann hat in vielen Teilen recht und auch wir in Europa sind dieser Gefahr genauso ausgesetzt.
- Sebastian Herrmann, Starrköpfe überzeugen. Psychotricks im Umgang mit Verschwörungstheoretikern, Fundamentalischen, Partnern und ihrem Chef. Fachbuch, 2013. Wieso wusste Sebastian Herrmann, Autor und Journalist, bereits 2013 von diesen irren Verschwörungstheoretikern? Nun, das Phänomen ist nicht neu. Und so sind seine Tipps, wie man mit diesen Menschen umgeht bis heute aktuell. Allerdings gefällt mir sein neueres Buch von 2019, das ich letztes Jahr gelesen haben - Sebastian Herrmann, Gefühlte Wahrheit - Wie Emotionen unser Weltbild formen - inhaltlich und sprachlich besser. Einiges wird 2019 wiederholt, daher war die Lektüre des Vorgängerbuches für mich wohl nicht mehr ganz so spannend. Egal, welches Buch man liest, Herrmann gibt in beiden praktische und einfache Kommunikationstipps im Umgang mit schwierigen Menschen. Sehr hilfreich und lehrreich.
Mai
Der Krieg in der Ukraine ist jetzt schon 100 Tage alt - und nimmt immer noch kein Ende. Es ist erschreckend, wie schnell wir uns an die täglichen Kriegsmeldungen gewöhnt haben. Und doppelt erschreckend ist, dass viele der Sorgen, Ängste und Kommentare, die man heute online in Social Media und auf Nachrichtenseiten liest und die man von Freunden hört, fast genau so - im Wortlaut - in den 30er Jahren, vor dem zweiten Weltkrieg, geäußert wurden. Man hat das Gefühl, es sind Mächte und Kräfte am Werk, die man - ganz egal in welchem Jahrhundert man lebt - nicht aufhalten kann. Lesen wird dabei eigentlich zu einem Akt des Eskapismus - selbst bei Fachbüchern. Zum Beispiel mit dem Buch von Reed Hastings, dem einzigen Buch, das ich in diesem Monat in einem Zug durchlesen konnte. Ansonsten liegen vier weitere Bücher parallel auf meinem Schreibtisch und Nachttisch ... irgenwie fällt die Konzentration schwer - in diesen Zeiten ...
- Reed Hastings & Erin Meyer, No Rules Rules - Netflix and the Culture of Reinvention. Fachbuch, 2020. Man könnte böse behaupten, dass auch der CEO von Netflix, Reed Hastings, in der Pandemie nichts besseres zu tun hatte, als ein Buch zu schreiben. Aber die Idee und die meiste Arbeit für das Buch liegen wohl vor Corona. Mittlerweile ist es ja fast schon usus, dass Unternehmenslenker irgendeine Art "Geheimnis" preisgeben, um zu erklären, wie und warum sie selbst und ihr Unternehmen so erfolgreich sind. Doch dieses Prinzip ist mit Vorsicht zu genießen, denn die Storifizierung in der Rückschau gibt dem Geschehen gerne einen Sinn - auch wenn in der Realität Etliches per Zufall und Glück passiert ist. Jetzt also Netflix.
Rund um die Unternehmenskultur von Netflix ranken sich schon lange Gerüchte. Gar nicht so gute. Da ist von einer harten, wettbewerbsorientierten Ellenbogen-Kultur die Rede. Von darwinschen Prinzipien, die nur den Stärksten ein Überleben in der Firma garantieren und von knallharten Entscheidungen, dass selbst langjährige alte Freunde eine Kündigung bekommen, wenn sie es nicht mehr "bringen". Vielleicht waren es genau diese Gerüchte, die Hastings - und INSEAD-Professorin Erin Meyer - dazu veranlassten, in einem Buch einmal genau zu erklären, was Netflix denn da so macht. Man merkt schon, ich bin von den Thesen und Führungsprinzipien, die in diesem Buch angepriesen werden, nicht wirklich überzeugt. Kurz zusammengefasst, propagieren Hastings und Meyer drei Dinge: Arbeite nur mit Toptalenten zusammen und tue alles, um diese Talente zu halten. Gib jedem größtmögliche Entscheidungsfreiheit, nehme aber auch jeden voll in die Verantwortung (Freedom & Responsibility). Gebe offen und ehrliches Feedback - behandle deine Mitarbeiter:innen wie Erwachsende (und nicht wie Kinder).
Hastings lehnt es ab, sein Unternehmen und seine Kollegen als "Familie" zu definieren. Das ist ihm viel zu emotional und gefährlich, denn in einer Familie hält man an Familienmitgliedern aus Loyalität und Zuneigung fest, obwohl sie das Unternehmen nicht voranbringen. Vielmehr gefällt ihm die Analogie mit einem Championsleague-Sportteam - also einem Team aus Profis, die professionell miteinander arbeiten - zumindest so lange die Teammitglieder ihre volle Leistung bringen. Liest man sich das durch, klingt alles logisch und vernünftig. Sehr rational und erfolgsorientiert. Aber ist die Welt - und eine Unternehmenskultur - wirklich so klasglar und rational? Und funktioniert das auch dann, wenn das Businessmodell mal nicht so durchstartet und man als Unternehmen schwierige Zeiten überstehen muss? Nun, bei Netflix ging es viele Jahre einfach nur bergauf. Jetzt, mit Ende der Pandemie, wird es aber auch für dieses Unternehmen schwierig. Man wird sehen, welches Führungsprinzip von Hastings langfristig tatsächlich Bestand hat.
Ich bin skeptisch. Und doch bin ich begeistert von dem Buch. Der Chef des derzeit aktuellsten Storytelling-Unternehmen der Welt ist - wen wundert es - ist ein fantastischer Storyteller. Das ganze Buch ist eine einzige Ansammlung von Geschichten. Und ein herrlicher Beleg, wie großartig Geschichten funktionieren. Denn auch, wenn man mit Hastings und Meyer nicht einer Meinung ist, so macht es doch Spaß, die vielen Anekdoten und Hintergrundstories zu einzelnen Netflix-Mitarbeitern zu lesen - und jede Geschichte schafft es doch, ein klein bisschen den Widerstand aufzuweichen und sich dem Führungsstil, den Hastings und Meyer propagieren, anzunähern. Ist das alles also vielleicht doch ziemlich genial? Bitte lesen Sie selbst.
Juni
Hitzewelle - in Indien, in Kalifornien, in Spanien, in Italien. Und auch in Bayern steigt das Thermometer auf über 35 Grad an diesem Juni-Wochenende. Was soll man bei dieser Affenhitze lesen? Naja, auf jeden Fall einen Klima-Roman, oder?
- Kim Stanley Robinson, The Ministry for the Future. Roman, 2020. Der Einstieg, das erste Kapitel, ist bereits ein Schocker. Indien wird von einer Hitzewelle getroffen, die Millionen von Menschen das Leben kostet. Ein krasses Szenario. Doch noch schlimmer als die Darstellung durch Robinson ist die Tatsache, dass die Beschreibung der Realität bereits ziemlich nahe kommt. Überall auf der Welt klettern die Temperaturen auf über 35, über 40 Grad. Ab 50 Grad ist die Hitze für Menschen tödlich. Schon heute ist eine der häufigsten Todesursachen der Hitzetod. Das Buch von Kim Stanley Robinson soll zwar Science Fiction sein, macht aber ganz und gar nicht den Eindruck, dass es sich hier um eine ferne Zukunft handelt. Und auch über die restlichen 600 Seiten verlässt einen der Verdacht nicht, dass es sich hier um fast schon einen Zeitzeugenreport handelt. Gibt es das Ministerium für die Zukunft wirklich? Finden bereits terroristische Attentate statt, um die schlimmsten Umweltsünder zu stoppen? Forschen wir bereits, wie man das Schmelzen der Gletscher an den Polen stoppen kann? Vieles in diesem Buch liest sich wie Realität und ist auch so. Dabei läuft einem das kalte Grausen über den Rücken - denn auch wenn das Ende hier versöhnlich ist, so fasst man keineswegs Vertrauen, dass wir das im wahren Leben schaffen könnten. Aber vielleicht liegt das Unbehangen auch daran, dass sich das Buch - für mich zumindest - aufgrund seiner Montagetechnik schwer lesen lässt. Die Kapitel wechseln immer wieder - für mich unmotiviert - die Perspektiven. So verliert man schnell den Überblick - und auch die ausführlichen Beschreibungen der Züricher Innenstadt sind meiner Meinung nach überflüssig. Als Amerikaner wollte Robinson wohl demonstrieren, wie gut er die Schauplätze seiner Handlung kennt. Die Frage, die sich aber alle stellen: ist das der Klimaroman, auf den alle gewartet haben? Ich bezweifle es.
Juli
Im Juni war noch von Hitzewelle in Deutschland bei 35 Grad zu lesen - in Bayern kam es dann doch nicht so hart. Aber jetzt ist Juli und die nächste Hitzewelle ist angekündigt: dieses Mal mit 40 Grad. Es bleibt also heiß und nicht gerade ideal, um dicke Bücher zu lesen. Ausserdem bleibt es beharrlich bei den üblichen Krisen: Corona-Pandemie. Krieg in der Ukraine. Klimakrise. Und jetzt kommt noch die Inflations- und Energie-Krise dazu. Man kann sich wohl nur mal kurz in die Sommerferien verabschieden. Oder geistig in Kinderbücher retten:
- Aimée Carter, Animox. Das Heulen der Wölfe. Roman, 2016. Die Serie rund um den 12jährigen Simon, der sich, wie alle in seiner Familie, in ein Tier verwandeln kann und sich mitten im Kampf der fünf Animox-Reiche befindet, hat bereits acht Bänder hervorgebracht. Der erste Band ist natürlich eine schön geschriebenen Gründungsgeschichte und es ist schnell klar, dass man hier ein kleines Story-Universum nach dem Vorbild von Harry Potter schaffen will. Statt den Zauberer und Hexen in Hogwarths gibt es hier im L.A.G.E.R. des New Yorker Zoos im Central Park eben jede Menge Menschen, die sich in Vögel, Reptilien, Fische, Säuger oder Insekten verwandeln können. Und auch dafür gibt es ein Vorbild: die dreiteilige Science-Fiction-Serie von Veronica Roth. In "Die Bestimmung" werden die Menschen in fünf Fraktionen eingeteilt und die Helden sind selbstverständlich irgendwo dazwischen. Ganz genauso ist es bei den Animox. Und doch die Geschichte von Simon schön zu lesen - entspannend und ganz ohne Klima-Krieg-Pandemie-Inflations-Gezeter.
August
Ende Juli und auch August sind literaturtechnisch sehr dürftig. Denn es musste jede Menge Reiseliteratur gelesen werden. Sehr empfehlenswert ist da vor allem
- Kristof Magnusson, Gebrauchsanweisung für Island. Fachbuch, 2018. Die Inhaltsangabe sagt schon alles: "Das unmögliche Land" - "How do you like Iceland - die Isländer und ihre Schwimmbäder" - "Vulkande" - "Der isländische Traum. Island und die Krisen" - "Natur" - "Die Sagas" - "There is no life outside the city". Und alles, wirklich alles, was in diesem Buch steht, stimmt genauso. Absolutes Muss für Islandreisende.
- Jeff Kinney, Gregs Tagebuch 2 - Gibt´s Probleme? Comic Roman, 2008. Kenney´s zweiter Roman ist nicht ganz so gut, wie der erste. Ach das passiert ja immer, wenn es eine Fortsetzung gibt. Und doch hat es Kenney mittlerweile auf 16 oder gar 17 oder 18 Bücher geschafft. Es ist trotzdem herrlich locker und amüsant zu lesen. Und bei den ganzen Katastrophenmeldungen da draussen, ein herrlicher Escape.
- Matt Ridley, The Evolution of Everything. How Small Changes Transform Our World. Fachbuch, 2015. Matt Ridley kennt man - von dem wunderbaren TED-Talk "Wenn Ideen Sex haben". Ein ganz wunderbarer Vortrag über Vorstellungskraft, Innovation und Kreativität. Und vor allem über die Idee, dass es gar nicht so sehr auf die Genialität einzelner Erfinder, Wissenschaftler und Innovatoren ankommt, sondern vielmehr auf das Zusammenspiel verschiedener Menschen - und der Austausch zwischen Menschen, auf der Suche nach Lösungen. In seinem Buch "The Evolution of Everything" schreibt er diesen Gedanken weiter und führt Innovation auf den Grundgedanken der Evolution zurück. Jede Idee - ganz egal ob Moral, Wirtschaft, Geld oder gar das Internet - ist das Ergebnis einer Evolution von Ideen. Ein kontinuierlicher Strom an Ideen, die in der Realität getestet werden - und am Ende überleben eben die besten Ideen. Die Grundidee ist schnell erzählt - und daher find ich es dann etwas schwierig zu lesen, dieses Prinzip immer und immer wieder angewandt zu sehen. Ridley ist - ohne jeden Zweifel - ein unglaublich gebildeter Allround-Gelehrter. Doch für mich persönlich war der Lerneffekt dann eher gering ... schlicht, weil ich zu gedankenfaul war, mich in all diese unterschiedlichen Gebiete einzulesen.
September
Was für ein Sommer! So heiß und trocken wie noch nie. So anstrengend wie noch nie. Und doch ... kaum werden die Tage kühler, kaum wird es um acht Uhr abends dunkel, kaum regnet es mal einen tag, schon vermisst man die glühende Hitze. Verrückt. Dabei sollten wir dankbar sein, dass der Herbst sich durchsetzt und der Natur etwas Verschnaufpause gönnt - und uns Zeit zum Lesen bietet:
- Steven Johnson, Wo gute Ideen herkommen - Eine kurze Geschichte der Innovation. Fachbuch, 2010. Johnsons TED Talk "Wo gute Ideen herkommen" hat über fünf Millionen Views. Der Mann ist also ein Rockstar unter den Autoren. Und doch vermag sein Buch mich nicht zu begeistern. Das liegt vielleicht an den vielen Innovations-Stories, die ich leider schon kannte. Das liegt vielleicht aber auch an dem schlichten Rezept, das er parat hat, wenn es darum geht, Innovationen zu erklären: Riff/Stadt/Netz, Das Nächstmögliche, Liquid Networks, langsame Ahnungen, Zufälle, Exaptation und Plattformen. Vielleicht aber ist die deutsche Übersetzung auch einfach zu dröge getextet, denn wenn aus "liquid networks" "flüssige Netzwerke" werden, merkt man schon, dass sich der oder die Übersetzerin schwer taten, hier eine Bestseller zu schreiben. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass das Buch mittlerweile mehr als zehn Jahre alt ist und damit im Jahr 2022 einfach überholt. Zumindest wenn es um den Bereich "Plattformen" geht. Denn leider haben Twitter & Co nicht gerade bewiesen, dass sie Innovationen zum Guten befördern.
- Matt Ridley, How Innovation Works. Fachbuch 2020. Ich hatte im August ja schon ein Buch von Matt Ridley gelesen und war nicht so wirklich glücklich damit. Da dachte ich, dass ich ihm nochmals eine zweite Chance gebe und der Buchtitel klang ja wirklich verlockend und vielversprechend. Aber leider muss ich sagen, dass das Buch - für mich und aus meiner Sicht - nur eine gute Sammlung von Innovations-Geschichten ist und damit eine gute Übersicht, aus welchen historischen Zusammenhängen Innovationen wie Kernspaltung oder Polioimpfung oder Kunstdünger entstanden sind. Und irgendwie leitet Ridley daraus auch einige Gesetzmäßigkeiten ab. Aber so wirklich erhellend ist das Ganze nicht und kommt auch wenig über den Ansatz seines "Evolutions"-Buches von 2015 hinaus. Wer also an guten Geschichten interessiert ist, für den ist das Buch perfekt. Wer auf der Suche nach einem "How-To" Ratgeber für Innovation ist (wenn es den überhaupt gibt ...), der ist von diesem Buch eher enttäuscht.
Oktober
Noch nie hat unser Walnussbaum im Garten so viele Nüsse geworfen, wie dieses Jahr. Ob das was mit der Hitze im Sommer zu tun hat? Auf jeden Fall bin ich mit der Ernte von Äpfeln, Quitten und vor allem Nüssen dieses Jahr mehr beschäftigt als sonst. Noch dazu, wo man wirklich alles verwerten möchte. Der Ukraine-Krieg, die Klimakatastrophe, die drohende Rezession, das immer noch schwellende Corona-Virus und die nicht zu stoppende Inflation mit ihren aberwitzigen Energiepreisen sorgen dafür, dass man sich Verschwendung so überhaupt nicht mehr leisten kann. Überall negative Nachrichten. Also hoffe ich auf ein paar "Good News" zwischen Buchtiteln und dementsprechend fällt die Wahl im Oktober auf folgende Bücher:
- Bernhard Fischer-Appelt, Zukunftslärm - Welche Erzählungen helfen, das Morgen zu gestalten. Fachbuch, 2022. Herrje, schon wieder so ein Buch, das mich wütend macht. Eigentlich hoffte ich auf ein paar kluge Worte. Von einem Kommunikationsprofi. Denn Bernd Fischer-Appelt ist einer der beiden Brüder, die die gleichnamige PR-Agentur gegründet hat. Doch leider kommt die Kompetenz dieses PR-Profis kaum zum Tragen. Stattdessen störe ich mich an ganz vielen Mängeln wie zum Beispiel, dass das Wort "Narrativ" einfach wahllos immer und immer wieder verwendet wird, ohne es genau zu definieren. Ganz ähnlich wie bereits bei Samira El Quassil und Friedemann Karigs "Erzählende Affen". Was ist nur passiert? Warum wird "Narrativ" wie ein Füllwort verwendet und einfach überall unreflektiert in Sätze eingestreut, wo Worte wie "Überzeugung", "Meinung", "Botschaft" viel besser und klarer wären. Ich verzweifle an diesem unwissenschaftlichen Ansatz. Und das Schlimmste ist: immer, wenn irgendwo "Narrativ" steht, dann hört sich der dazu passende Satz so philosophisch oder gar strategisch an. Doch meistens ist es nur heiße Luft, die da dargestellt wird. In Fischer-Appelts Buch geht es mir an vielen Stellen so. Hinzu kommt, dass er sich auch gerne an alten Beispielen bedient, die wir schon all zu oft gehört haben wie z.B. "Kennedy und die Mondlandung" oder "Brand und der Prager Kniefall" oder "Elon Musk". Und leider zitiert Fischer-Appelt dann wohl auch immer Sekundärliteratur - verbreitet also Angelesenes. So verbreiten sich die immer gleichen Geschichten immer weiter - egal ob stimmig oder nicht. Das Buch basiert ohnehin viel auf "eigener Meinung" und "eigenen Eindrücke" und weniger auf hart recherchierte Fakten. Das macht dieses Fachbuch auch etwas gefährlich, denn es ist letztendlich nur ein Meinungsbuch. Sehr klar wird das im letzten Kapitel, wo Fischer-Appelt zahlreiche Appelle veröffentlicht, die alle irgendwie auf das amerikanische "You can do it" hinauslaufen. Vielleicht ist sein Buch auch gar für den amerikanischen Markt geschrieben und scheitert daher an der kritischen Haltung deutscher Leser (oder meiner), denn schon im Vorwort entschuldigt er sich, dass das Buch in englischer Sprache geschrieben wurde und die deutsche Übersetzung an manchen Stellen holprig ist. Das stimmt leider. Aber auch die besten Übersetzung kann nicht als Erklärung dienen, dass sein Modell der "Fünf Kräfte für ein Zukunftsnarrativ" dünn ist und dass damit die Frage nach der Bedeutung von "Zukunftslärm", die sein Buchtitel verspricht, leider nicht eingelöst wird. Schade, da wäre mehr möglich gewesen. Großartig finde ich einzig den Anfang, in dem er Utopie und Dystopie gegenüberstellt und ihre Bedeutung für eine erfolgreiche Kommunikation kommentiert. Leider wirds danach dann schwurbelig. So jedenfalls mein Eindruck.
- Annette Simmons, Whoever Tells The Best Story Wins. How To use your own stories to communicate with power and impact. Fachbuch, 2015. Das erste Buch von Annette Simmons, "Story Factor" von 2006 habe ich verschlungen. Vielleicht, weil vor Jahren für mich das Thema Storytelling noch so neu war und ich einfach nur beeindruckt war, wie viele Möglichkeiten man mit dieser Kommunikationsmethode hat. Dieses neuere Buch allerdings - und dieses ist jetzt auch schon wieder sieben Jahre alt - habe ich leider schnell wieder weggelegt, vielmehr nach anfänglichem reinlesen, schnell durchgeblättert. Das liegt wohl leider an der dünnen Erkenntnisgewinnung und an dem zu stringenten Buchaufbau. Denn Simmons hält sich an eine von ihr selbst verordneten Reihung von Story-Kategorien, die sie wohl jedem ihrer Kunden rät. Aus ihrer Sicht ist es entscheidend sechs verschiedenen Stories parat zu haben: 1. Who-I-Am-Stories, 2. Why-I-Am-Here-Stories, 3. Teaching Stories, 4. Vision Stories, 5. Value-in-Action Stories und 6. I-Know-What-You-Are-Thinking-Stories. Dieses Schema klingt mir sehr nach Stephen Denning, der in seinem Buch "The Leader´s Guide to Storytelling" eine ähnliche Reihe empfiehlt. Und dann berichtet sie sehr detailliert aus einzelnen Beratungssessions mit Kunden und dem Learning daraus. All das ist nicht falsch. Aber irgendwie auch nicht spannend und neu. Besonders gut gefällt mir aber der Gedankengang am Anfang, dass nämlich der Blick auf Fakten wie ein Vexierbild ist. Manche sehen nur nackte Fakten und andere aber sehen eine Geschichte darin. Und am besten ist es, wenn man zwischen beiden Betrachtungsweisen hin und herswitschen kann - eben wie bei einem Vexierbild. Und man sollte eben auch keine Angst davor haben, beide Betrachtungsweisen auszuprobieren: „Learning to
think in story does not erode your ability to think in objective terms.” (Annette Simmons)
- Wolf Lotter, Innovation - Streitschrift für barrierefreies Denken. Fachbuch, 2018. Es ist anstrengend Wolf Lotter zu lesen. Immer. Und das meine ich ganz im positiven Sinne. Denn wenn ein Autor so etwas wie "Deep Reading" (was ich einfach mal von "Deep Thinking" umdeute) erfordert, dann ist er es. Jeder Satz ist druckreif. Kein Wunder, das Buch ist ja auch gedruckt. Aber damit meine ich, dass man über keine seiner Sätze einfach mal so drüber huschen kann und gemütlich Seite um Seite konsumiert. Nein, das geht definitiv. Lotters Bücher sind meist Büchlein - handlich, klein und gar nicht mal so dick. Aber dafür hat es der Inhalt in sich. Bei vielen Sätzen wird es gefährlich, denn man denkt: "Na, das ist doch eine Binsenweisheit..." Aber oh nein. Was sich meist so selbstverständlich und gefällig anhört, ist in der Regel dann doch Zündstoff. Und so auch in seiner Streitschrift zum Thema Innovation. Denn da streitet er für Innovatoren. Für Spinner. Für Andersdenker, die in unserer Gesellschaft und in Unternehmen eigentlich gar keinen Platz haben. Weil sie unbequem sind. Weil sie Fragen stellen. Weil sie sich einfach nicht einfügen lassen wollen. Aber genau das ist Innovation. Das Andere. Riskante. Neue. Lotter zieht uns an unseren eigenen Ansprüchen aus der Deckung und hält uns dann aber brutal den Spiegel vor, denn obwohl wir immer nach Innovationen schreien, sind wir doch eigentlich gar nicht bereit dafür. Oder? Sein Büchlein wirft Fragen auf. Gibt wenige Antworten. Ist aber: absolut lesenswert.
- Lea Dohm / Mareike Schulze, Klima Gefühle. Wie wir an der Umweltkrise wachsen statt zu verzweifeln. Fachbuch, 2022. Zwei Psychotherapeutinnen schreiben über Gefühle. Das klingt nach wissenschaftlicher, strukturierter Aufarbeitung. Und genau das weiß ich zu schätzen. Denn systematisch arbeiten die beiden Autorinnen alle Gefühle ab, die die Klimakatastrophe in uns weckt: Angs, Wut, Traurigkeit, Schuld und Scham, Neid, Freude und Verbundenheit, Hoffnung und Mut. Sie erklären die jeweiligen Emotionen und erläutern anhand guter Beispiele und Geschichten (Achtung Storytelling!), wie sich diese Gefühle äußern und was man mit ihnen machen kann. Eine wunderbare Erörterung unseres Gefühlshaushalts und damit ein neue Näherung an das so große Thema "Klimakrise". Sehr lehr- und hilfreich.
November
Weihnachten steht vor der Tür. Dieses Jahr früher als sonst. Keine Ahnung, warum das so ist. Vielleicht wollen die meisten die Weihnachts-Fussball-WM schnell hinter sich bringen. Vielleicht erhoffen wir uns von der sogenannten "staaden Zeit" irgendwie eine Auszeit von dem ganzen Irrsinn aus Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Rechtsruck und Corona-Nachwehen. Die Welt ist ja in keiner Weise so wie sie mal war und diese "Zeitenwende" fühlt sich in allen Ecken einfach ungemütlich an. Dann einfach jetzt schon mal - mitten im November, bei 20 Grad - Adventsdeko rausholen und Weihnachtskrippe aufbauen und so tun als sei Winter. Und lesen.
- Karolina Frenzel / Michael Müller / Hermann Sottong, Storytelling - Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen. Fachbuch, 2004. Das Buch müsste eigentlich ein Klassiker der Storytelling-Literatur sein. Schon zu Beginn der 2000er, als eigentlich noch niemand dies Kraft des Erzählens im professionellen Umfeld, auf dem Schirm hatte, haben Frenzel, Müller, Sottong hier schon ausführlich die Vorzüge des Storytellings im Unternehmen beschrieben und ganz praktische Anwendungsmöglichkeiten aufgezeigt. Aber wahrscheinlich waren sie ihrer Zeit einfach voraus, denn erst zehn Jahre später brach der Hype um den Begriff "Storytelling" dann erst wirklich los. Nicht unbedingt hilfreich für das Buch ist vielleicht aber auch der im Untertitel angekündigte Theorieansatz, bzw. der Name des Theorieansatzes .... "Harun-al-Raschid-Prinzip". Das klingt irgendwie märchenhaft. Und leider auch nicht nach einer ernst zunehmenden Methodik.
Harun al-Raschid war im 7. Jahrhundert Kalif in Bagdad und so mit einer der mächtigsten Herrscher des Orients. Er hatte Zugang zu Wissenschaftlern, Dichtern, Gelehrten - aber er wollte sich nicht nur auf die Experten verlassen. Deshalb verließ er seinen Palast und schlich verkleidet durch die Straßen seiner Stadt, um die Geschichten der einfachen Leute zu hören. Ein paar nette Prinzipien verbergen sich hinter dem Verhalten von al-Raschid, aber so wirklich taugt das dann doch nicht für eine Storytelling-Theorie, die in der Unternehmenskommunikation überzeugen will. Vielleicht auch ein Grund, warum das Buch nicht ganz seine Wirkung in der Breite entfalten konnte. Ganz großartig - und mein absolutes Highlight - ist jedoch der Anfang. Da wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der einen Deal mit dem Tod eingeht. Er darf weiterleben, so lange er keine Geschichten erzählt. Was sich anhört wie eine Abwandlung des "Brandner Kasper", der den Tod mit Schnaps überlistet, entpuppt sich dann doch aber als ganz besondere Parabel - denn natürlich leidet die arme Seele Höllenqualen auf Erden. Denn Kommunikation ohne Geschichten ist fast nicht möglich - und wenn, dann sehr seelenlos. Und so hat er dann eben doch seine Seele verkauft. - Karolina Frenzel / Michael Müller / Hermann Sotton: Storytelling - Das Praxisbuch. Fachbuch, 2006. Zwei Jahre nach dem "Harun-al-Raschid-Prinzip" haben Frenzel, Müller und Sotton so viel Erfahrung mit ihrem narrativen Ansatz gesammelt, dass sie ein Praxisbuch veröffentlichen. Und in der Tat ... es ist sehr anschaulich und leicht verständlich geschrieben. Ist voll gespickt mit Tipps und Anleitungen, um Storytelling-Workshops in Unternehmen und Organisationen durchzuführen. Und die Autoren zählen auch viele Anlässe auf, zu denen ein narrativer Ansatz passt. Und doch bleiben am Ende des Buches viele Fragen offen - zu offensichtlich sind manche Workshopkonzepte, zu simplifiziert manch Einladung zum Storytelling. Irgendwie scheint dann doch alles ziemlich mit Wasser gekocht und gar nicht sooo sophisticated. Wer es also sehr praktisch mag, für den ist das Buch bestens geeignet und keineswegs veraltet. Mir ist allerdings am Liebsten die Begründung für Storytelling, denn die Autoren zeigen sehr anschaulich den Unterschied zwischen argumentativem Denken und narrativem Denken. Und sie plädieren für eine Ausgewogenheit:
"Nur wenn beide Arten des Denkens zum Tragen kommen, ist erfolgreiches Handeln - im Unternehmen ebnso wie in vielen anderen Lebensbereichen - möglich. Einseitig argumentatives Denken ist in Gefahr, wichtige Realitätsbereiche auszugrenzen und zudem in seinen Fakten zu erstarren, nicht Nues zu schaffen, Zusammenhänge und Wirkfaktoren auszublenden, die man einfach nicht `auf der Rechnung´ hatte. Einseitig narratives Denken würde ebenso wichtige Realitätsbereiche ausgrenzen und wäre in Gefahr, sich im luftigen Raum der Geschichte und der Möglichkeiten ohne Anbindung an die Realität zu verzetteln."
- Bernhard Fischer-Appelt, Storyverse Playbook - Finde die Geschichte, die alles verändert. Fachbuch 2022. Und auch bei Bernhard Fischer-Appelt habe ich nochmals zugeschlagen. Meine Enttäuschung über sein Buch "Zukunftslärm" war zwar groß (siehe im Oktober), aber ich wollte ihm dann doch noch eine Chance geben. Denn der Titel des neuen Buches löst ein Versprechen ein, dass mit seinem ersten Buch eigentlich gegeben war: wie macht man denn gute Geschichten? Also zunächst: es ist ein wirklich hübsches Buch geworden. Gratulation an den Illustrator und Grafiker Thomas Kappes, der dem Buch nicht nur viel Farbe gibt, sondern auch Witz und Verspieltheit - es macht sehr viel Lust und Laune durchzublättern. Fischer-Appelt müht sich dabei wirklich, den Leser mitzunehmen in den Kreativprozess des Storytellings. Oder viel mehr müssten man eigentlich sagen in die Welt der "Markenpositionierung". Weil er aber ein alter PR-Hase ist und eben kein klassischer Werber oder Markendesigner, kommen mit der Erarbeitung rund um die Positionierung auch jede Menge Headlines und Stories heraus, die man auch Journalisten anbieten könnte.
Das Vorgehen ist ziemlich klassisch - keine großen Überraschungen. Und doch interessant, mal in das Nähkästchen einer so großen Agentur zu blicken. Wären da nicht die Beispiele, die Fischer-Appelt tapfer durch den Prozess hindurch verwendet - um immer wieder zu beweisen, dass seine Methodik funktioniert. Denn irgendwie funzt es nicht so richtig, wenn er die "richtige" Story für "Die Grünen" oder das Lebensmittel "Milch" sucht. Noch dazu, wo einige Beispiel rückwärts entwickelt sind ... wir wissen ja, wie sich die Grünen derzeit positionieren - da ist es schon eine kühne Behauptung, dass sich diese entlang einer langfristigen Strategie genau so entwickelt hat. Aber es ist ja immer eine Krux, wenn man Erfolgsgeschichten anschaut. Im Nachhinein ergibt vieles Sinn - weil eine Geschichte eben wunderbar kontextualisiert. In Wahrheit ist dann aber doch auch vieles eben glücklich und durch Zufall genau so gelaufen und lässt sich auch nicht replizieren. Mein Fazit: nett anzuschauen, aber keine Raketentechnologie. Nice.
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Übrigens ...