DIE MAGIE DER IMMERSION: WESTWORLD - EXPERIENTIAL STORYTELLING VON HBO

Gastbeitrag von Gerhard Maier, Cofounder seriencamp | PLOT18

Drei Wochen bevor das gerne mit Innovation und Trendsetting jeder Art protzende Festivalkonglomerat SXSW dieses Jahr seine Pforten öffnete, kursierte eine kuriose Einladung: Auf der Seite discoverwestworld.com wurden die SXSW-Besucher aufgefordert ihren persönlichen Aufenthalt im von Androiden bevölkerten Wild West-Vergnügungspark WESTWORLD zu buchen, der im Mittelpunkt der neusten Bemühungen von Pay-TV-Sender HBO steht mit einer High Concept/Big Budget-Serie weltweiten Erfolg zu haben. 

Immer noch Alternate Reality Games?
Auf den ersten Blick gleicht discoverwestworld jener Art von alternate reality games – kurz: ARGs – die vor knapp einem Jahrzehnt mit der damals gleich in mehrfacher Hinsicht revolutionären TV-Serie LOST genutzt wurden. Dort hatte das Team rund um JJ Abrams, Damon Lindeloff und Jeffrey Lieber den Hype rund um die Serie und die darin versteckten Hinweise auf die „wahre Geschichte“ der Serie weiter angeheizt, in dem sie das fiktionale Universum und seine Mythologie in Richtung transmedialer Schnitzeljagd ausbauten. 
In den Werbeunterbrechungen fanden sich Spots für die fiktiven Firmen und Produkte der Serie, die auf versteckte Webseiten führten, zu mysteriösen Telefonansagen, zu rätselhaften mathematischen Formeln, zu literarischen Kritiken eigens für die Serie geschriebener Bücher. In Zusammenarbeit mit Werbepartnern wie Coca Cola/Sprite und Jeep entstand daraus das sogenannte LOST EXPERIENCE, eine faszinierende Mischung aus Content und Marketing, mit der die Grenze zwischen seriellem Storytelling und Realität zunehmend verwischten. 

Experiential Storytelling löst ARG ab
Doch für SXSW, jener Veranstaltung, die seit jeher als Lackmustest erfolgreicher wie budget-intensiver Marketingexperimente gilt, begnügte man sich bei WESTWORLDs Senderheimat HBO nicht mit etwas derart schnödem wie einem im Jahr 2018 arg angestaubt wirkendem ARG. Auf der SXSW hatten Sender wie HBO, USA Network, Starz und Hulu ihre Serien-Highlights in den Jahren zuvor mit stetig megalomanischeren Aktionen beworben. 

Für GAME OF THRONES mietete man eine Lagerhalle an, baute darin die Hall Of Faces als interaktive Social Media-Fotogelegenheit nach, servierte eigens gebrautes Westeros-Bier und stellte Requisiten der Serie aus, als wären es Kronjuwelen. Für MR. ROBOT verwandelte sich ein beinahe ganzer Häuserblock in einen Coney Island-Vergnügungspark samt Riesenrad, Schießbuden und Zuckerwatteständen, wo die Besucher mut dem üblichen Merch aus T-Shirts, Schlüsselanhängern und Sonnenbrillen versorgt wurden. Für die Premiere von THE HANDMAID'S TALE schickte Hulu knapp 50 Darsteller in den prägnanten Uniformen der Mägde los, die dann in ihrer schweigenden Präsenz SXSW-Besucher verstörten, während nebenan TV-Sender BRAVO halbnackte Stripper Werbung für eine neue Dating-Sendung machen lies.
HBOs Nerd-Sitcom SILICON VALLEY pflasterte derweil die Stadt mit Plakaten des fiktiven Start-Ups Pied Piper zu und bedienten sich dabei mit ironischem Augenzwinkern der Werbesprache der Techbranche, während Showtime für AMERICAN GODS ein zwölf Meter großes weißes Bison aufstellten oder AMC für PREACHER eine ähnlich große, auf den Kopf gestellte Kirche aufbauen lies . Die Mischung aus Merch-Verteilung und Fotogelegenheit schien dieses Jahr der unangefochtene Goldstandard erfolgreicher Marketingaktionen. 

Abtauchen lassen - um Twitterstürme auszulösen
Was bedeuten soll: Um im Jahr 2018 Twitterstürme auszulösen, in den zahlreichen On Location-Berichterstattungen aufzutauchen und den gewünschten Wow-Effekt beim abgestumpften SXSW-Publikum zu erreichen, musste HBO im Wettrennen der Marketing-Coups für WESTWORLD aufrüsten. Weshalb discoverwestworld auch sehr viel mehr bot, als nur eine Erweiterung des fiktiven Storywelt in die Virtualität des realen Internets; man stampfte einen Pop-Up Vergnügungspark nach dem Vorbild der Serie aus dem Boden und ermöglichte dem Publikum voll in die fiktive Storywelt von WESTWORLD abzutauchen. 

Experiential Storytelling - Fiktion erlebbar machen 
Das neue Zauberwort in Austin lautete „experiential storytelling“. Während Telekommunikationsgigant AT&T seine ersten Schritte ins exclusive content-Terrain in der Form von Agentenserie CONDOR mit einer etwas lustlosen Mischung aus Escape Room und immersiver Theaterperformance begleitete, die jeweils vier Besucher durch einige als Agenten-Hauptquartier ausgestattete Räume lotste, um dabei Einblicke in die Handlung der Serie preiszugeben, feuerte HBO aus allen Rohren. 

Wer zu den glücklichen, knapp 3.000 Auserwählten zählte, die in Gruppen von 40 bis 50 Besuchern an die knapp dreißig Minuten entfernte Westernstadt vor den Toren Austins gefahren wurden, durften sich gleich zu Beginn ihrer WESTWORLD-Erfahrung voll in die Welt der TV-Serie begeben. 

In der Serie WESTWORLD, eine zeitgemäß aufgebohrte Adaption jenes gleichnamigen Science Fiction-Klassikers aus dem Jahr 1973 von Michael Crichton, werden vergnügungssüchtige Besucher in eine von humanoiden Robotern bevölkerte Westernwelt entlassen. Hier werden kaum Regeln und Grenzen gesetzt, jeder Besucher entscheidet selbst welche Version seiner selbst er hier ausleben möchte. Als „immersive vacation“ angepriesen, darf jeder Besucher selbst entscheiden, ob er in bester Westerntradition wild um sich ballernd zum gesetzlosen Rüpel werden will oder zum ritterlichen Beschützer der Schwachen und Hilflosen. Tausende von sogenannten Storylines warten hier darauf entdeckt und verfolgt zu werden und laden die Besucher ein sich in der Welt von WESTWORLD zu verlieren. Die Androiden sind nur Statisten, Helfer, Gegenspieler oder Opfer der fern strafender Augen von den Besuchern ausgelebten Triebe. 

Welcome To Sweetwater, Welcome to SXSWestworld 
Wie sehr WESTWORLD, die Serie und WESTWORLD, der Marketing-Coup ineinander verschränkt sind, zeigt sich bereits am Einlass: Weiß gewandete Darsteller, die mit starrem Blick ihre einstudierten Texte wiedergeben und den Besuchern ihre wahlweise schwarzen oder weißen Cowboy-Hüte überreichen, während nebenher erste Cocktails serviert werden und im Hintergrund auf riesigen LED-Bildschirmen Werbeclips des fiktiven WESTWORLD-Veranstalters Delos laufen, erwecken den Eindruck mitten in die Welt der Serie getreten zu sein. Was jedoch nur der Anfang ist. Im Bus zur Westernstadt, der komplett mit Delos-Logos und Westworld-CI versehen wird, geben Darsteller in android emotionsloser Stimme Verhaltenshinweise, auf den TV-Geräten sind Einführungsvideos zu sehen. 


Nur der erste Vorgeschmack auf die anschließende Ankunft im Städtchen Sweetwater. Durch einen Eisenbahnwagon gelotst, wartet dort der erste Bewohner der Stadt auf die Besucher und gibt erste Hinweise: Ins Postamt solle man gehen, denn dort warte vielleicht ein Brief, von den Outlaws solle man sich fern halten und mit dem Sheriff solle man sich gut stellen. 
Einer von insgesamt 60 Darstellern, sechs Stuntmännern und sechs Pferden, die in drei Tagen des pr-wirksam als SXSWestworld betitelten Events täglich acht Mal einen der sogenannten „Loops“, eine 90-minütige Schleife sämtlicher kleiner und großen Dramen von Sweetwater wiedergeben werden. 
Und von denen gibt es reichlich zu entdecken: 440 Seiten Drehbuch fertigte das Team der Serienshowrunner Jonathan Nolan und Lisa Joy an (knapp 120 Seiten Skript sind für einen etwa 90 minütigen Spielfilm die Regel) und weben dabei ein Netz immersiver Geschichten, die an unterschiedlichen Stellen der Westernstadt beginnen und nach anderthalb Stunden auf dem Dorfplatz zu einem großen Finale zusammengeführt werden. 

Zwischen emotionalem Engagement und psychologischer Manipulation 
Als Besucher ist man zunächst überwältigt von den Eindrücken, von den in Gesprächsfetzen eingefangenen Einblicken in das Leben der Charaktere und den zahllosen möglichen Interaktionen: Der Sheriff will uns anheuern Verbrecher zu fangen und warnt eindringlich davor Ärger zu verursachen, im Saloon wartet ein Black Jack-Tisch, ein im lokalen Postamt persönlich an uns adressierter Brief gibt kryptische Hinweise auf eine auf dem Gelände versteckte Tür, die auf der Busfahrt ausgegeben Münzen können an einer Bar gegen harte Drinks eingetauscht werden, während sich um uns herum ein gutes Dutzend verschiedener Storylines entfaltet, die mal zur aktiven Teilnahme einladen, mal zum stillen Beobachten, mal um Easter Eggs der Serie zu entdecken. Die Interaktionen zwischen Besuchern und Darstellern sind zwar improvisiert aber stets streng von der jeweiligen Rolle, ihrer Motivation und ihrer Storyline vorgegeben. Der Sheriff grummelt in einem improvisierten Gespräch griesgrämig die Neuankömmlinge an, sie sollen sich von den zwielichtigen Gestalten im Saloon fernhalten, stellt dann in einer kleinen einstudierten Szene, die Licht auf eine der Storylines wirft einen der Herumtreiber zur Rede und fährt dann nahtlos einen der Besucher an, der mit neunmalklugen Kommentaren die Szene unterbricht. 

Für knapp 90 Minuten können sich die Besucher so durch Sweetwater treiben lassen, mit den Bewohnern ins Gespräch kommen, deren persönliche Geschichten und Konflikten folgen und sich an klever gesetzten Querverweisen auf die Serie erfreuen. Es ist eine bemerkenswerte Mischung aus immersivem Cosplay-Event, interaktiver Theateraufführung, subversiver psychologischer Manipulation und klug ins Reale erweiterter fiktionalen Storywelt, deren beeindruckende Leistung darin liegt nicht nur per Mundpropaganda und Social Media-Präsenz zu punkten – SXSWestworld war dominierendes Hashtag während den ersten drei Tagen des Festivals und mit „Have You been to Westworld?“ der präferierte Go To-Eisbrecher in den allgegenwärtigen Warteschlangen. 

Die größte Stärke lag darin selbst bei abgestumpften SXSW-Profis echte Emotion hervorzukitzeln. Entweder in der Form eines unleugbaren Schauers der Ehrfurcht ob der derart detailliert zum Leben erweckten Welt, in der Form von realem Zusammenzucken beim großen, im Kugelhagel endenden Finale auf dem Dorfplatz, in der Form von Schamesröte, wenn die Dorfschönheit in einen offenen Flirt verstrickte, in einer seltsamen Mischung aus Scham und Gier, wenn der Pfarrer daraufhin weist, dass Nachschub für die sorgsam rationierten und als einziges Zahlungsmittel im Saloon akzeptierten WESTWORLD-Münzen nur zu finden seien, wenn man das Grab von Dolores Abernathy umgraben würde.  

Der Goldstandard der Aufmerksamkeitsökonomie? Freiwillige Teilnahme 
Warum SXSWestworld derart gut seine Mission erfüllte – namentlich die Serie für einige Tage zum vorrangigen Gesprächsthema des sowieso an Buzz und Hype nicht armen Festivals zu machen – liegt nicht nur im offensichtlich großen Budget und der mehrmonatigen Vorbereitungszeit. Es liegt in der Natur des experiential storytelling. Das Ziel jeder Form von medialer Kommunikation ist klar umrissen und in der Ära einer zunehmend überhitzten Aufmerksamkeitsökonomie wichtiger denn je: Das lärmende Grundrauschen zu durchschneiden und eine im Idealfall aktive Auseinandersetzung mit den jeweiligen Inhalten zu erreichen. 

Egal ob die Benachrichtigungstabs des Smartphones, wo WhatsApp, proppevolle Inbox, Terminkalendar und Breaking News gedrückt und gewischt werrden wollen, egal ob die To Watch-Liste des Streaminganbieters, in der sich die neusten Serien türmen, egal ob die Timelines der Social Media-Kanäle, die abgearbeitet werden wollen oder die per Newsletter eintrudelnden Angebote, Updates und Nachrichten – Freunde, Familie, Produkte, Ereignisse buhlen um Aufmerksamkeit. 

Weshalb die erfolgreiche Ansprache sich vor allen Dingen an einem Standard misst – sich nicht mit dem Brecheisen des Plakativen, des Skandalösen, des Schockierenden ins Blickfeld zu arbeiten, sondern freiwillige Partizipation zu erreichen und den Angesprochenen idealerweise nicht nur als Konsumenten der Nachricht zu erreichen, sondern als Multiplikator. Der witzige virale Werbeclip soll gerepostet und geteilt werden, die Facebook-Seite der Lieblingsserie mit Kommentaren und Likes versehen werden, die Behind The Scenes-Aufnahmen des nächsten Blockbusters mit Instagram-Herzen versehen werden – kurz: Die Beziehung zwischen Ansprache und Angesprochenem im besten Fall innig sein, die Wahrnehmung der darüber vermittelnden Nachricht nur der erste Schritt einer tieferen Beziehung sein. 

Grenzen verwischen - zwischen Show und Teilnahme, Darsteller und Publikum
Mit dem Erlebnis SXSWestworld, das die Grenze zwischen Show und Teilnahme, zwischen Darsteller und Publikum, zwischen passivem Konsum und aktiver Interaktion auf ähnliche Weise einreißt, wie es Theaterprojekte wie Sleep No More oder Nicholas Hytner mit seiner Inszenierung von „Julius Caesar“ zuletzt taten, zeigt sich die Magie des experiential storytelling. Um den Angesprochene aus der Lethargie des reinen Konsums zu reißen, muss sich die Möglichkeit der Teilnahme bieten. 

Nicht-Reproduzierbarkeit wird zum Hype
Die Teilnahme in der Form von realer Interaktion scheint in einer Ära der allumfassenden Virtualisierung wertvoller denn je – die Beliebigkeit des Virtuellen und Digitalen wird ersetzt durch die Immanenz und Flüchtigkeit des tatsächlich erlebten. Die Verbindung dieses tatsächlich erlebten und seiner Nicht-Reproduzierbarkeit mit den fiktiven Storywelten von Film und Serie gibt kombiniert mit der Möglichkeit einer interaktiven Immersion eine ungewöhnliche Mischung von sich gegenseitig verstärkenden Elementen. 

Die Geschichte des Storytellers wird unmittelbarer erlebbar, die Flüchtigkeit der Erfahrung macht sie intensiver, die multisensorische Immersion hinterlässt tiefen Eindruck und lässt die Erfahrung der Geschichte weit stärker erscheinen als die reine passive Auseinandersetzung mit einer Geschichte. 
Die Geschichte wird nicht nur erzählt, sie wird just in diesem Moment für mich erzählt! 

"Experiential Storytelling": Effekte, Erfahrungen und deren Anwendbarkeit für Marken und Unternehmen in Marketing und Unternehmenskommunikation - das ist eines der Themen, der Storytelling-Konferenz Plot18 am 13. September in München. Programm und Tickets unter:  www.whattheplot.com.

Text und Bilder: Gerhard Maier

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