WAS SELFIES ÜBER UNS AUSSAGEN


„Rund zwei Drittel (65 %) der deutschen Smartphone-Nutzer ab 14 Jahren machen (...) Selfies. (...) Und drei von fünf Selfie-Machern (59 %) teilen ihre Selbstporträts in sozialen Netzwerken.“ Die Bitcom-Studie »Die Zukunft der ConsumerElectronics« versucht das Massenphänomen „Selfie“ in Zahlen zu erfassen. Aber erklärt das die Tsunami dieser ästhetisch fragwürdigen Portaitbilder im Netz?


Ich, Ich, Ich


Am 11. Januar 2000 beschloss der Fotograf Noah Kalina sich täglich selbst zu fotografieren. Immer in der gleichen Pose und mit dem gleichen, neutralen Gesichtsausdruck. Zwölfeinhalb Jahre lang produzierte er jeden Tag ein „Selfie“ und montierte diese zu einem Film: „Everyday“ zeigt die Wandlung eines jungen, glattrasierten 19-jährigen Teenagers zu einem reifen Mann im Alter von 32 mit Vollbart – in 4.545 Selbstportraits. Sicher, ein extremes Beispiel von „Selfie-Sucht“ – aber seien wir mal ehrlich: wir machen vielleicht nicht täglich ein Bild von uns, aber jeden zweiten …? Na? Gucken wir doch gleich mal auf dem Handy nach.

Seit Erfindung der Fotografie 1826 stand der Fotograf immer hinter der Kamera. Der Macher des Fotos war unsichtbar und blieb anonym. Auf Urlaubsfotos war derjenige, der die Fotos schoss, in der Regel nie zu sehen, als wäre er gar nicht dabei. Für eine gemeinsame Aufnahme musste man entweder einen Passanten um Hilfe bitten oder den Selbstauslöser bedienen und schnell ins Bild hechten.
Heute halten wir einfach unser Smartphone vor die Nase und drücken ab. Fertig. Das Bild ist meist schief und verzerrt. Macht nix, es geht ja um den Moment. Und wir müssen nicht mehr einen Fremden händeringend darum bitten, den richtigen Ausschnitt zu wählen und auf den Auslöser zu drücken und auch nicht bangen, dass er plötzlich mit dem Fotoapparat durchbrennt.
Heute sind wir, die Macher, selbst im Bild. Wir zücken den Selfie-Stick, diese unsägliche Verlängerungsstange, und glauben damit unseren Blick auf die Welt zu vergrößern. (Museen wie das Metropolitan Museum in New York verbieten mittlerweile die Anwendung dieser Stöcke, da sie die
Beschädigung ihrer Kunstwerke fürchten.)

Und doch ist das "Sefie" eigentlich keine neue Erscheinung: Kaum ein Künstler, der nicht ein Selbstportait von sich veröffentlichte. Noch bis zum 31. Januar ist in der Kunsthalle in Karlsruhe die Ausstellung "Ich bin hier! Von Rembrandt zum Selfie" zu sehen, die Parallelen zieht zwischen dem Narzissmus auf Leinwand und Smartphone.
Doch sind Handyportraits nun mal nicht für die Ewigkeit geschaffen, wie es so manches Ölgemälde tut. (Mit spitzer Feder kommentiert von Kia Vahland in der SZ unter der Überschrift "Außenansicht").

Besonders heute sind wir von der Tatsache fasziniert, dass wir uns immer und jederzeit selbst ablichten können. Das Selfie wird heute zum immerwährenden Spiegelersatz und scheinbar erkennen wir uns auf den schrägen Selfie-Bildern besser als im richtigen Leben.

Und der nächste Schritt steht schon vor der Tür: Mastercard und Amazon kündigen an, dass wir statt Pincode bald einfach nur noch ein Selfie machen müssen, um zu bezahlen. Ja, wir bezahlen mit unserem Gesicht. So sieht die Zukunft des Selfies aus. Lohnenswert ist hierzu der Artikel von Laura Hertreiter aus der SZ vom 2. April 2016. Hertreiter beschreibt darin nicht nur wie gefährlich es sein kann, ein Selfie zu machen, sondern auch, dass wir Selfies vor allem lieben, weil wir damit Kontrolle über uns selbst gewinnen. Nachzulesen unter "Mach dir dein Bild".

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